Gemeine Stadt.

Straße

18 Buchstaben, ein Tuch und tausend falsch gedeutete Zeichen

Nadire Biskin

Ich möchte eigentlich nicht darüber nachdenken oder reden, aber so kann es nicht weitergehen. Die einen hüllen sich in Schweigen. Die anderen wiederum kauen es wie Kaugummi und lassen es immer wieder genüsslich platzen. Manche lassen den Hintergrund weg. Mein sogenannter Hintergrund ist in diesem Land auf meiner Stirn. Das alles hätte nichts damit zu tun. So behaupten sie. Es ist die Rede von Himmelsrichtungen, die gut oder böse sein sollen. So geht das nicht. Sie deuten zu viel oder sagen, es gäbe nichts zu deuten. Sie behaupten, was mir widerfahren ist, hätte keine Bedeutung.

Jedenfalls, ich fange an, ganz von vorne.

Als ich die Wohnung mit meinem Kleinen verließ, sah ich als Ersten den Nachbarn. Ich grüßte ihn. Ich sagte nicht einfach etwas Bedeutungsloses wie „Hi“ oder „Hallo“. Ich wünschte ihm einen guten Tag. Er wünschte mir auch einen guten Tag. Wie immer lächelte ich ihn dann an. Wie immer blickte er daraufhin zu Boden. Er hielt seinen Rucksack fest, noch fester als zuvor. Ich war das gewohnt, aber man hofft ja trotzdem. Ich war ziemlich alleine hier und wollte Kontakte knüpfen. Wie jeder weiß, fängt alles mit einem Lächeln an. Jeder Kontakt, jede Beziehung beginnt mit dem Auge. Doch er lächelte nicht zurück.

Ich vermisste damals den Handball. Ich wollte noch etwas warten, bis mein Kleiner, mein Augapfel, gewachsen ist und mir dann einen Verein, einen Kurs oder Ähnliches suchen. Ich wollte spielen. Freundinnen gewinnen.

Wer weiß, vielleicht hätten sie auch so reagiert wie mein Nachbar. Es lag am Tuch. Ich hatte es irgendwann verstanden. Das Tuch war nicht um meinen Hals gewickelt. Es verdeckte mein Haupt so wie ihre Augen, ihre Herzen und den Weg dazwischen. Wie dick ist mein Tuch? Wie meine Haut? Ich frage dich. Frag du dich das auch.

Nachdem ich die Treppen runtergelaufen war, setzte ich den Kleinen in den Kinderwagen. Den nutzte ich so oft es ging, schließlich hatten wir so viel Geld dafür ausgegeben. Er war auch praktisch. Ich wollte nicht mit dem Kleinen, der gerade anfing zu laufen, anderen im Weg stehen. Jedenfalls setzte ich ihn in den Wagen. Ich drückte ihm die Plastikdose gefüllt mit den Sesamringen in die Hand. Der Spielplatz war nicht weit weg, zwei Tramstationen und ein kurzer Fußweg. Ich entschied mich gegen die Fahrt mit der Tram. Es war schon immer anstrengend, mit Kinderwagen genug Platz zu haben, schnell genug einzusteigen, bevor die Straßenbahntür schließt. Als ich das letzte Mal diese Strecke fuhr, wurde es noch anstrengender. Ich war schon mit dem Kleinen in der Tram. Ich sah einen Mann im Rollstuhl, der einsteigen wollte, aber der Tramfahrer stieg nicht aus. Allein schaffte der Mann es nicht und eine Rampe war nicht in Sicht. Also ließ ich den Kinderwagen in der Tram, huschte raus, um den Rollstuhl reinzubringen. Ich bekam das erstaunlich gut hin, obwohl ich es zum ersten Mal tat. Ich drückte mit aller Kraft die Schiebegriffe und lenkte den Rollstuhl in die Tram. Doch die Tür ging diesmal wirklich zu, ihre Flügel drückten mich von beiden Seiten. Es piepte, die Tür ging auf, mein Körper konnte sich wieder entfalten. Eine Mitfahrerin schaute mich genervt an. Ihre Nasenlöcher hätten mich regelrecht verschlucken können. Ich lächelte sie an. Sie wendete sich von mir ab und blickte auf die Strecke, die die Tram zurücklegte.

Wissen Sie, ich war damals neu, also nicht neu auf der Welt, aber neu dort; also auch nicht neu innerhalb der Landesgrenze, aber neu dort; also auch nicht an diesem Punkt, aber neu dort, an diesem Ort. Als Mensch neu irgendwo zu sein, das ist nicht wie ein neues Möbelstück oder Kleidungsstück. Ein neuer Mensch wird nicht gerne gesehen, neue Menschen sind nichts Erfreuliches. Die Alteingesessenen, die haben es gut. Ich bin natürlich auch einer dieser glücklichen Alteingesessenen, nur woanders. In einer größeren Stadt übrigens, wo man sich die Straße mit Maronenverkäufern und Saftständen teilt wie mit geparkten Autos und den Sonnenblumenkernschalen. Also am Anfang, da war das ja auch interessant hier. Ganz anders. Ja, schön, so übersichtlich. Sie merken, ich rede drumherum. Was ich bis jetzt gesagt habe, das gleicht einem Stadtrand. Viele meinen, er gehört nicht dazu, zur Stadt, zur Geschichte. Dabei sind Rand und Zentrum unzertrennlich. Ebenso verhält es sich mit diesen vermeintlichen Randnotizen. Der Kern fußt auf diesen Details. Der Kern fußt definitiv nicht auf seinem Namen, Wein oder Wien oder Wen – sehen Sie, ich weiß nicht mal mehr wie er heißt. Vielleicht auch AIN, nein Hain oder Khayin, der Beserkerhafte. Viel wichtiger als sein Name ist mein Name. Viel wichtiger als sein Name ist, dass ich auf dem Spielplatz mit meinem Augapfel Schlösser aus Sand baute, welche er regelmäßig am Ende mit Harke und Schippe in der Hand zerstörte. Mein Kleiner schlug immer mit dem Rücken der Schippe zuerst auf den Turm des Schlosses. Ich bin eine Mutter wie jede andere, natürlich hat mir das gefallen; nicht die Zerstörungskraft, aber sein Eigensinn, seine Kraft, alles wieder von vorne anzufangen. Der Typ kam aus dem Hinterhalt und nannte mich das, was man Frauen nennt, um sie zu erniedrigen, damit sie ihre Köpfe in den Sand stecken, damit sie zu Gesichtslosen werden. Er nannte mich auch so, wie man Radikale mit Tuch nennt, um sie beim Namen zu nennen. Immer wieder gab er mir Namen. Er sagte keine vollständigen Sätze. Er gab mir Namen, die ich nicht annahm. Namen, die am Ende ein Tuch wurden und mich kalt machten. Doch dort und damals ließ es niemanden kalt. Eine andere Frau bekam das alles mit und rief die Polizei. Sie wurde in dem Moment zu einer Schwester. Die Polizisten kamen und taten ihre Pflicht, das Mindeste. Er hatte natürlich kein schlechtes Gewissen. Das mit dem Gewissen ist ganz einfach: Ein schlechtes Gewissen hat man, wenn man einem Menschen schadet. Ich war kein Mensch für ihn, also gab es keinen Schaden, der hätte ihn mit Scham erfüllen können.

Natürlich erzählte ich meinem Mann davon. Ich musste es. Ich wollte das nicht mit ihm teilen. Er diente der Wissenschaft. Er sollte nur für die Wissenschaft denken und natürlich ab und zu an den Kleinen und mich. Doch er sah mir das an. Mein Gesicht war lesbar wie ein Brief. Es war blass. Ich wirkte nervös auf ihn, als wir am Abend gemeinsam saßen. Der Kleine weinte und schrie lauter als sonst. Selbst wenn ich es nicht gesagt hätte, der Brief von der Polizei hätte es ihm gesagt. Die darauffolgenden Tage hat es auch mein Körper gesagt. Ich konnte nicht auf der Straße laufen, ohne meinen Kopf fast wie die Kugel eines Fernsehturms um meinen ganzen Körper zu drehen. Ich musste ständig um mich blicken, vor allem, wenn ich die Schritte anderer Passanten hinter mir hörte, und ich hörte alles. Auch nichts hörte ich, und es war etwas. Nur wenn mein Liebster seine Hand auf mein Schulterblatt legte, hörte das Hören auf, mein Puls schlug nicht mehr wild, und ich lief, als hätte ich Kopfhörer auf und konnte schöne Klänge hören. Mit der Zeit klang das ab, und ich hörte nicht mehr viel und lief wie alle anderen.

Wir hätten nie gedacht, dass da eine so große Sache daraus werden würde. Es war klar, es war eindeutig. Dennoch mussten wir vor Gericht. Er veranlasste das, dieser Khayin. Ich wollte das nicht, und doch wollte ich das. Ich wollte meine Geschichte erzählen. Ich wollte meinen Teil zur Rechtsordnung beitragen. Mein Liebster und ich, wir waren uns sicher, das ist der sicherste Ort, wo im Namen des Volkes, des Staates mit einem Tuch auf den Augen, das nicht der Blindheit der Sehenden gleicht, ein Urteil gesprochen wird. Wir fuhren zum Gericht. Wieder und wieder. Wir versammelten uns alle dort. Wir hatten alle unsere Beweggründe. Als wir beim letzten Mal den Saal verlassen wollten, sichtlich erschöpft und doch froh, gekommen zu sein, da passierte es. Achtzehn Messerstiche, als hätte er sie abgezählt. Für jeden Buchstaben meines Namens ein Stich. Achtzehn Buchstaben trägt mein Name. Achtzehn Stiche trägt mein Körper. Keine Worte, keine metaphorischen Messerstiche, sondern reale Stiche in mein Fleisch.

Alles drehte sich in mir und um mich im Kreis. Mein Bauch drehte sich. Was hätte werden können in mir, drei Monate alt, drehte sich. Was wir hätten werden können, drehte sich. Ich versuchte mit meinen Händen die Augen meines kleinen Augapfels zu schließen. Er sollte das alles nicht sehen. Wie könnte er sonst durch die Straßen laufen, wenn er das alles sieht? Das Rot, die Kreise, die Schreie, die umgeworfenen Stühle, die Polizisten, die Akten, die vom Tuch gefallenen Nadeln. Mein Liebster hätte mein Liebster bleiben können. Doch an dem Tag traf ihn das Schicksal, und er wurde zum Helden. Drei Stiche zuerst, dann ein Schuss. Denn Helden hält man zunächst für Böse, und diese irrsinnige Haltung veranlasste den Schuss des Polizisten. Es traf sein Bein. Wir konnten nicht mehr gehen. Die einzigen Zeugen unserer Geschichte sind unsere Kinder und die können nicht erzählen.

Mit einem Tuch hält man mich gedeckt, manche lässt es kalt. Ich bin überall, nirgendwo, und wieder deutet man falsch. Ich liege hier kalt, aber ich glühe.

Kann jemand die Pfeile abmontieren? Meine Geschichte, ein Teil meiner Geschichte, nicht meine ganze Geschichte, dass ich das sagen muss, sie soll dort stehen. Warum auch nicht. Denkmal, Mahnmal, nein, nicht nur einmal: so oft, bis 18 Zeichen, ein Name, ein Tuch, nicht mehr falsch übersetzt werden. Da kann man vandalieren, umwerfen. Was einmal in den Köpfen sich zementiert hat, soll raus. Und da nehme ich Platz ein. In Gedanken bin ich frei, in Gedanken bin ich sicher. Ein Schiff, nach mir benannt, ich rette auf hoher See. Ich rette in den Tiefen der Erde. 

In Erinnerung an Marwa Ali El-Sharbini

„Ich konnte nicht auf der Straße laufen, ohne meinen Kopf fast wie die Kugel eines Fernsehturms um meinen ganzen Körper zu drehen. Ich musste ständig um mich blicken, vor allem, wenn ich die Schritte anderer Passanten hinter mir hörte, und ich hörte alles.“