Die Michelangelostraße im Ortsteil Prenzlauer Berg ist eine von vier Nachbarschaften in Berlin, deren Wohnungsbestand zu mehr als 60 Prozent genossenschaftliches Eigentum ist.1Weitere drei Nachbarschaften in Berlin mit mehr als 60% genossenschaftlichem Wohnbestand: Mühlengrund in Neu-Hohenschönhausen, Lindenhofsiedlung in Tempelhof, Gartenstadt Am Heideberg in Spandau. Quelle: Eigentumskonzentration Berlin 2021 – Genossenschaften, Geodatenportal Berlin, aufgerufen am 10.2.2022. Dort befindet sich auch die Kulturmarkthalle, eine ehemalige Kaufhalle, in der am 11. Dezember 2021 eine Veranstaltung zum Thema Eigentum im Rahmen des Projekts „Gemeine Stadt“ durchgeführt wurde.
Trotz ihrer städtebaulich imposanten Gestalt – zwanzig 10-geschossige und zwei 20-geschossige Plattenbauten flankieren einen 860 Meter langen und 150 Meter breiten Freiraum – ist die Siedlung nur wenigen bekannt und taucht im übergeordneten Raumsystem Berlins nicht wirklich auf. Die eigentlich zentrale Lage als Verlängerung der Ostseestraße wird durch die fehlende Anbindung bis zur Landsberger Allee in eine nahezu intime Situation umgekehrt. Der weitläufige Strassenraum richtet den Blick Richtung Volkspark Prenzlauer Berg und löst sich in einen von Pappeln begleiteten Radweg, eine Zufahrt zu einem Werkstoffhof der BSR und einen brachliegenden Parkplatzstreifen auf. Die Michelangelostraße selbst knickt dort in einer scharfen Kurve als Kniprodestraße Richtung Volkspark Friedrichshain ab.
Diese städtebauliche Leerstelle einer nie zu Ende geführten radialen Verbindung als Ringstraße C – oder A100 – überlagert sich mit dem hohen öffentlichen Eigentumsanteil an Boden zu einem stadtentwicklerischen Vakuum. Selbst eine seit nunmehr 10 Jahren in Planung befindliche Überbauung des Freiraums durch landeseigene Wohnungsunternehmen wird sich noch lange nicht verwirklichen lassen, da ungeklärte Restitutionsfragen das Vorhaben verzögern. Hier setzen der Spaziergang und das Kartenwerk an: Welche Räume entstehen in einer von Kapitalinteressen befreiten Stadt, hervorgebracht durch planwirtschaftliche Urbanisierung und geprägt durch genossenschaftliche Betriebsweisen?
Obwohl die Nachbarschaft seinerzeit gerade noch zum Bereich des Hobrecht-Plans gerechnet wurde, kam dieser hier nie zur Umsetzung durch gründerzeitliche Investor:innen. Stattdessen lag das dafür vorgesehene Bauland bis in die 1950er Jahre quasi brach. Ab 1957 konnten drei Genossenschaften eine Großwohnsiedlung für Arbeiter:innen am Stadtrand errichten, die sich heute durch dauerhafte Bezahlbarkeit auszeichnet und den üblichen Gentrifizierungs- und Verdrängungsdynamiken entzogen ist. Anders als im Fall von landeseigenen oder gar privatisierten Plattenbausiedlungen sorgt die satzungsgebundene Verwaltung der Genossenschaften einerseits für eine relativ stabile Instandhaltung und Pflege der Innen- wie Außenräume, andererseits aber auch für eine sehr homogene und wenig durchlässige Mieter:innenzusammensetzung.2So ist der migrantische Anteil an der Anwohner:innenschaft in der Michelangelostraße (Bereich Greifswalder Straße) mit 9,6% relativ niedrig. Quelle: Amt für Statistik Berlin-Brandenburg, aufgerufen am 10.2.2022.
Dieser Atmosphäre einer urbanen Raumproduktion jenseits privatwirtschaftlicher Marktlogiken und staatlicher Austeritätspolitiken läßt sich anhand einer Reihe von Mappings nachspüren. In den Farbkontrasten lassen sich Eigentumsverhältnisse in Überlagerung mit Betriebsweisen als sich gegenseitig informierende Bedingungen möglichen Raumgebrauchs nachlesen. Ebenso wie das Gelände der Berliner Stadtreinigung, liegen eine Kleingartenanlage und ein Sportfeld zwar auf öffentlichem Grund, sind aber als Clubeigentum der jeweiligen Nutzer:innen durch die Einhegung der Parzellen nur eingeschränkt zugänglich. Die Grundstücksflächen im Gemeinschaftseigentum der Genossenschaften liegen in einer offenen Landschaft, strukturiert durch eingesäumte Schulhöfe, Kindergärten oder andere Gemeinschaftseinrichtungen und kleine Parks.
Neben der monumentalen Wahrnehmung der Siedlung aus dem fahrenden Auto, Bus oder LKW heraus öffnet sich aus Sicht der Spaziergänger:in und Radfahrer:in ein feinmaschiges Raumgewebe. Die Durchwegung der Siedlung zwischen Wandscheiben, Garteninseln, Spielgeräten, Sandkästen, Schachbrett- und Streifenfassaden, Baumgruppen, Lichtungen, Flachbauten, Bodenbelagsabfolgen, Bauzäunen, Parkplätzen und Sitzbänken in unterschiedlichen Designs verbindet den größten Maßstab mit dem kleinsten und synthetisiert beide Ebenen als aneigenbaren Stadtraum. Es liegt an derjenigen, die den Raum gebraucht, was sie daraus macht. Und vielleicht genügt das ja auch.