Gemeine Stadt.

Eigentum

Die urbane Allmende –
für ein neues Gemeineigentum

Ralf Hoffrogge

Die Stadt als Gemeingut

Eine Stadt besteht wesentlich aus Gemeingütern: Straßen, Plätze, Bürgersteige und Parks werden von allen genutzt – ganz gleich, ob sie in der Stadt Steuern zahlen, oder auch nicht. Eine Stadt kostet keinen Eintritt – jedoch ist ihr öffentlicher Raum umkämpft. Nicht nur Cafés und Restaurants vereinnahmen Teile der Gehwege Berlins, diese werden auch von einer Plage von E-Bikes und E-Rollern privatisiert. Rollstuhlfahrende, Menschen mit Kinderwagen und alle, die nicht so gut zu Fuß sind, haben das Nachsehen – ihr Anteil am Gemeingut wird geschmälert, zugunsten der verleihenden Unternehmen.

Hier scheint sich etwas zu wiederholen, was die klassische Wirtschaftswissenschaft als „Tragedy of the Commons“ bezeichnet hat: gemeinschaftlich genutzter Boden, die sogenannte Allmende, wie sie im Mittelalter fast jedes Bauerndorf kannte, wird durch Übernutzung geschädigt und zerstört. Am Ende können nur Privatisierung und Marktsteuerung Nutzungskonflikte überwinden: Nicht mehr jede und jeder darf das Schwein unter die Dorfeichen treiben, ein Zaun wird gezogen, alle mästen ihr Vieh auf eigenem Grund – oder müssen Land pachten. Marktsteuerung, so die Theorie, sorgt für klare Verhältnisse und behutsame Nutzung. Die historische Erfahrung lehrt allerdings, dass eine Gesellschaft von Kleineigentümern die Ausnahme war. Großbauern ließen Heuerleute für sich arbeiten, Adelige zwangen ihre Untertanen in die Leibeigenschaft und Allmenden wurden so gut wie nie frei aufgeteilt, sondern von Großgrundbesitzern angeeignet.

Dem heutigen Gemeingut ergeht es ebenso. Zwar ist die alltägliche Übernutzung des öffentlichen Raums in den Städten offensichtlich – davon zeugen etwa vermüllte Gehwege oder zerstörte Rasenflächen in ausgetrockneten Parks. Unachtsamkeit entwertet Gemeingüter. Doch ihre Enteignung passiert nicht durchs Platttreten, sondern durch gezielte Inbesitznahme. Die finanzkräftigen E-Roller-Sharing-Dienste nutzen Straßen und Plätze ganz selbstverständlich als Stellfläche für ihre Fahrzeugflotten. Wo die Besitzerin oder der Besitzer eines einzelnen Rollers diesen am Gehwegrand anschließt, verstopft das Unternehmenseigentum jeden Durchgang. Die Tragödie der Commons zeigt sich auch auf dem Gehweg nicht primär als Unachtsamkeit des Individuums, sondern wird erst möglich durch eine Inwertsetzung zum Zwecke des Kapitals.

Wohnungen auf dem Markt

Während die Teilprivatisierung von Gehwegen für die meisten Menschen ohne Rollstuhl und Kinderwagen nur ein Ärgernis ist, löst das langsame Verschwinden von Wohnungsbeständen in öffentlichem Eigentum mittlerweile Existenzängste aus. Denn ja, auch öffentlicher Wohnraum hat eine Tradition in Deutschland. Bis 1990 gab es ihn in so gut wie jeder größeren Stadt. Er war kein Gemeingut in dem Sinne, das alle zu allem Zugang hatten – jede Wohnung war und ist privat, wer dort wohnt, kann andere aussperren. Aber als Gesamtheit gehörten diese Bestände uns allen, sie waren für eine soziale Wohnungspolitik nutzbar – wenn auch selten ausreichend. Berlin etwa verfügte 1990 über etwa 600.000 solcher Wohnungen. Statt dieses einzigartige Erbe zu entwickeln, wurde es in Scheiben geschnitten und privatisiert. Bis 2011 hatte jeder Berliner Senat Wohnungsbestände verkauft, ganz gleich, ob SPD, CDU oder die Partei des demokratischen Sozialismus regierten. Die nicht regierenden Grünen und Liberalen flankierten diese Politik 2002 durch eine Verfassungsklage gegen den Haushalt, welche die Privatisierungszwänge verfestigte.

Gemeingut hatte in den Nullerjahren keine Lobby. Es schien auch kein Bedarf vorhanden zu sein – kurz nach der Wende überstieg das Angebot an Wohnungen zunächst die Nachfrage, in Berlin wurde tatsächlich Wohnraum abgerissen. Sinn machte das nur, weil auf dem Markt nicht geplant wird – trotz Prognosen über steigende Bevölkerungszahlen verursachte der Leerstand Kosten, kein Eigentümer (und auch keine Eigentümerin) wollte für diese aufkommen, um einen langfristigen Bedarf zu decken. Denn allein in Form der Spekulation nimmt der Markt zukünftige Bedarfe zur Kenntnis – und auch das nur, wenn diese mit zahlungskräftiger Nachfrage verbunden sein könnten.

Der Markt sorgte durch Abriss und Neubaustopp dafür, dass in Berlin nach nur 15 Jahren wieder Wohnungsnot herrschte. Die steigenden Preise seit Mitte der 2000er Jahre sind jedoch nicht allein Folge dieser Knappheit. Angebotslücken führen nur in Kombination mit Marktsteuerung zu Teuerungen. Jenseits des Marktes wären auch öffentlich festgelegte Mieten denkbar – dies wurde Berlin jedoch jüngst von Richterinnen und Richtern einer anderen Stadt verboten. Und so gilt weiter: Wer zwei Wohnungen besitzt, kann jemanden ohne Wohnung zwingen, ein Drittel seines Lohnes herzugeben – oder auch mehr. Und wer einhunderttausend Wohnungen besitzt, kann nicht nur vom Markt profitieren, sondern ihn manipulieren: Durch gezielte Mieterhöhungen an den Obergrenzen des Mietspiegels wird das allgemeine Preisniveau systematisch gesteigert.

Eine solche Vermieterin von einhunderttausend Wohnungen war die Deutsche Wohnen SE – mittlerweile aufgegangen in der noch größeren Vonovia. Es ist kein Zufall, dass dieses Unternehmen zum Namenspatron der Initiative „Deutsche Wohnen & Co Enteignen“ wurde. Seine Praktiken waren berüchtigt – und sind es unter dem neuen Markennamen immer noch. Zudem zeigt ein Immobilienriese wie die Deutsche Wohnen die ganze Absurdität der Marktsteuerung. Aus der Privatisierung einst gemeinwirtschaftlicher und öffentlicher Bestände, die preisdämpfend und sozial ausgleichend wirkten, entstand ein Konzern, der den Renditedruck des globalen Finanzmarktes in unsere Wohnzimmer trägt. Mit Angebot und Nachfrage hat das wenig zu tun, denn genauso wenig wie Bäuerinnen und Bauern auf ihr Land verzichten können, können Mieterinnen und Mieter ihre Wohnung entbehren. Boden ist nicht vermehrbar. Wohnraum schon – doch unter der Steuerung des Marktes entsteht niemals ein Mehr an bezahlbarem Wohnraum. Denn nur mit einem Mangel lassen sich hohe Preise erzielen. Sollte jemals ein ausgeglichener Markt existieren, bei dem jede Mieterin und jeder Mieter auch eine passende Wohnung findet, wäre das Geschäftsmodell der Wohnkonzerne ruiniert.

Renaissance der Vergesellschaftung

Es brauchte zweieinhalb Jahrzehnte vom Beginn der Privatisierungswelle bis zur Renaissance der Vergesellschaftung – ausgerufen durch die Mietergemeinschaft Kotti & Co, die 2016 erstmals die Enteignung der großen Immobilienkonzerne forderte. Dahinter stand damals noch kein konkretes Konzept – jedoch die Gewissheit, dass nur öffentliches Eigentum Sicherheit bringen würde vor Vernachlässigung von Wohnraum und Verdrängung durch Mietsteigerungen.

Neu an diesem Ruf nach Enteignung war, dass nicht eine Selbstverwaltung einzelner Gebäude im Vordergrund stand, wie noch in der Hochphase der Hausbesetzungen. Die jüngste stadtpolitische Bewegung setzte stattdessen die öffentliche Verwaltung größerer Wohnungsbestände auf die Tagesordnung. Sie wollte keine Freiräume gegen den Alltag, sondern forderte als Stadtgesellschaft den eigenen alltäglichen Raum zurück. So wurde, zunächst nur in der Debatte, die Privatisierungslogik der vorangegangenen zwei Dekaden umgedreht. Daher war anfangs oft auch von einer „Re-kommunalisierung“, also einer Zurückholung ins städtische Eigentum, die Rede. Diese Forderung hatte etwas Konservatives, zehrte von geteilten Erinnerungen an Sicherheit durch staatlichen Wohnungsbau im West- wie im Ostteil der Stadt.

Doch die veränderten Verhältnisse machten ein Zurück nicht mehr möglich: Die Immobilienkonzerne würden ihre Wohnungen nicht einfach so hergeben und wenn doch, müsste der kaputtgesparte Landeshaushalt dafür ein Vielfaches der Summen zahlen, die er durch die Privatisierung eingenommen hatte. Wie einst die Protagonisten der Reformation zunächst nur die Wiederherstellung alter Zustände forderten, dann aber in den revolutionären Bauernkrieg zogen, war auch die neue Mieterbewegung gezwungen, radikalere Lösungen anzustreben. Schnell zeigte sich, dass die vermeintlich bessere Vergangenheit nur begrenzt Vorbilder bot: Niemand wünschte sich die Zentralverwaltungswirtschaft und den Verfall der Wohnungsbestände in der DDR zurück. Aber auch im Westen war das öffentliche Eigentum nie ein selbstverwaltetes Projekt gewesen. Entstanden als Mischung aus Konjunkturförderung und sozialtechnischer Befriedung, gab es im kommunalen Wohnungsbau der alten Bundesrepublik keine echte Mitbestimmung. Bis heute werden die öffentlichen Wohnungsbestände Berlins als Aktiengesellschaften oder GmbHs verwaltet – im rechtlichen Sinne sind sie Privateigentum, über das auch der Staat nur indirekt durch seine Rolle als Aktionär und Gesellschafter bestimmen kann. Erst ein Volksentscheid 2015 erzwang die Einsetzung von Mieterräten – denen jedoch eine Demokratisierung der Unternehmen bisher nicht gelang. Nach wie vor sind die städtischen Wohnungsbaugesellschaften ein „Staat im Staate“.

Vergesellschaftung als demokratischer Aufbruch

Die Initiative Deutsche Wohnen & Co Enteignen entwickelte bei ihrem Antritt 2018 neue Gemeingut-Modelle. Zwei Dilemmata taten sich dabei auf: einerseits potenzielle Interessenkonflikte zwischen den Mietern und Mieterinnen und der Allgemeinheit, andererseits Widersprüche zwischen zentraler Planung und lokaler Demokratie.

Natürlich müsste Gemeingut demokratisch verwaltet werden, um seinen Namen zu verdienen. Jedoch sollten die Mieterinnen und Mieter nicht alleine entscheiden. Wo die bereits Versorgten vor allem ein Interesse an günstigen Mieten haben, verlangen Wohnungssuchende und Zugezogene auch Neubau – also eine Investition zu Lasten der Bestandsmieter:innen. Gemeineigentum müsste diesen Konflikt berücksichtigen, eine syndikalistische Selbstverwaltung der zufällig am Enteignungstag in den Wohnungen von Vonovia & Co Lebenden ist daher keine Option. So fiel auch das Modell einer Genossenschaft aus, die diesem Konzept der lokalen Eigentümergemeinschaft entspricht.

Tatsächliches Gemeingut hat jedoch derzeit in der Bundesrepublik keine Rechtsform – obwohl das Grundgesetz in Artikel 15 es ausdrücklich vorsieht. Die Initiative Deutsche Wohnen & Co Enteignen nahm sich daher andere öffentliche Güter zum Vorbild, wie den öffentlichen Nahverkehr oder den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Beides wird als „Anstalt öffentlichen Rechts“ verwaltet, welche in ihrer Zugangsform dem Konzept Gemeingut sehr nahekommt: Sie hat keine Anteilseignerinnen und -eigner, sondern nur Nutzerinnen und Nutzer. Und es ist möglich, in ihren Entscheidungsgremien verschiedene Gruppen zu berücksichtigen. Die Initiative Deutsche Wohnen & Co Enteignen sieht einen Verwaltungsrat vor, in dem Mieterinnen und Mieter, in der Anstalt Beschäftigte, der Berliner Senat sowie Vertreterinnen und Vertreter der Stadtgesellschaft grundsätzliche Entscheidungen gemeinsam treffen sollen. Hinzu käme ein System von Räten der Mieterinnen und Mieter, das dafür sorgt, dass diese Entscheidungen nicht über die Köpfe der Bewohnerschaft hinweg gefällt werden.

Die lokalen Räte würden das zweite Dilemma bearbeiten, jenes des Widerspruchs zwischen Planung und lokaler Selbstverwaltung. Denn einerseits müsste eine zukünftige Anstalt, nennen wir sie einmal „Gemeingut Wohnen“, zentral planen. Neubau müsste gemeinsam finanziert werden, ebenso die energetische Sanierung. Sonst würden, wie heutzutage auf dem privaten Wohnungsmarkt, die Bewohnerinnen und Bewohner einzelner Häuser auf den horrenden Kosten sitzenbleiben. Günstiger wäre es, würden diese auf eine größere Gemeinschaft umgelegt werden. Ebenso zentral sind andere gesamtstädtische Aufgaben, wie etwa die Unterbringung von Geflüchteten. Gleichzeitig können diese Aufgaben nicht ohne Wissen und Mithilfe auf der nachbarschaftlichen Ebene erfüllt werden. Eine Vergesellschaftung muss dieses Dilemma lösen – indem sie demokratische Räume innerhalb der noch zu schaffenden gemeinwirtschaftlichen Anstalt öffnet.

Mit der Einrichtung von Räten sind die auftretenden Konflikte natürlich nicht gelöst. Doch erstmals würde anerkannt, dass Gemeingut mehr ist als Staatseigentum in Obhut einer Bürokratie, die alleine über das Wohl der Betroffenen entscheidet – mit der Folge, dass sich diese am Ende für nichts verantwortlich fühlen. Die Lösung für die Tragödie der Commons heißt also Demokratie. Sie ermöglichte schon der bäuerlichen Allmende ein längeres Leben als es die klassische Ökonomie wahrhaben will. Mit Wohnraum als Gemeineigentum würde die Allmende in urbaner Form neu aufgerichtet – als ein Ort, in dem wir leben und für den wir zuständig sein wollen.


Hochhaus in der Berliner Gropiusstadt, die in Teilen Eigentum der Vonovia ist. Foto: Anderas Levers via Wikimedia Commons

Literatur