Gemeine Stadt.

Straße

Landepiste für den utopischen Überschuss

Oliver Pohlisch

Auf die Straße gehen – die meisten wissen, was diese Phrase bedeutet: Ein Zustand ist nicht mehr haltbar, die Forderung, ihn zu verändern, muss so schnell wie möglich für viele sichtbar gemacht werden. Die Straße ist seit Jahrhunderten nie nur eine Verbindung von A nach B, sondern auch wichtiger Ort kollektiver Willensbildung jenseits staatlicher Institutionen gewesen. Anders als im Parlament, wo nur wenige Auserwählte stellvertretend eine Haltung kundtun und Entscheidungen treffen, können auf der Straße theoretisch alle ihre Meinung äußern und gesellschaftliche Prozesse in eine andere Richtung lenken; und sei es dadurch, dass sie Regierende aus ihrem Amt jagen. Auf die Straße gehen beinhaltet also immer die Möglichkeit, dass Protest aus Sicht staatlicher Repräsentant:innen außer Kontrolle gerät oder gar in Gewalt mündet, die sich direkt gegen sie selbst richten kann.

Da schon manches repressive Regime aufgrund des Drucks der Straße fiel, tendieren linke Narrative dazu, die Straße als Resonanzraum für Stimmen „von unten“ zu romantisieren. Doch rufen diese ausschließlich nach Befreiung und Egalität? Letztlich war die Straße nie exklusiv die Bühne progressiver Bewegungen. In der Weimarer Republik galt sie auch als Aufmarschterrain für den faschistischen Mob und im Deutschland nach dem Mauerfall ist sie immer wieder Schaufenster für die antidemokratische Gesinnung von Neonazis, Reichsbürger:innen, Impfgegner:innen oder Querdenker:innen.

Könnte die aktuell wahrnehmbare Zunahme reaktionärer Straßendemonstrationen auch eine Folge dessen sein, dass linke Kräfte für ihre politische Artikulation seit den neunziger Jahren verstärkt auf die Datenautobahn ausgewichen sind? Das Internet hob zeitliche und geographische Einschränkungen von Präsenz auf, man konnte seine Standpunkte immer und überall deutlich machen, ohne im Polizeikessel zu landen oder sich auch nur Blasen an den Füßen zu holen, Hacker:innen sorgten für punktuelle Systemirrelevanz. In der Hochphase des globalisierungskritischen Protests um die Jahrtausendwende kam es dann zum ersten Mal zu einer Art Parallelführung von Asphalt- und Breitband. Die Massenmobilisierung zu Gipfelprotesten und später zu Platzbesetzungen nach der Finanzkrise forderte die kapitalistische Regulationsweise weltweit in einem Maße heraus, wie dies schon lange nicht mehr geschehen war; und auch derzeit nicht passiert.

Stattdessen hat die Rechte in schneller nachholender Bewegung die Attraktivität der Zweispurigkeit für sich entdeckt und befeuert ihre physische Anwesenheit im öffentlichen Raum zeitgleich mit einem weltumspannenden digitalen Strom toxischer Botschaften. Geschickt eignet sie sich nicht nur Formen und Methoden linken Widerstands an, sondern dreht noch so manchen progressiven Inhalt auf rechts. Vor allem die Querdenker:innen haben der Skepsis gegenüber staatlichen Apparaten oder Großkonzernen der Chemie- und Pharmabranche, eigentlich beides traditionelle Adressaten linken Zorns, einen neuen, finsteren Twist verpasst.

Selten ein Strand unter dem Pflaster

Vielleicht ist die obige Betrachtung zu holzschnittartig. Selbstverständlich lässt sich weltweit weiterhin ein über die „sozialen“ Medien organisierter linker Straßenprotest registrieren. Doch er wirkt erstaunlich fragmentiert, einzelne Bewegungen überschneiden sich zeitlich und örtlich äußerst selten. Die vielfach geforderte Intersektionalität manifestiert sich kaum einmal in einer größtmöglich diversen Menschenmenge, die ein breites Spektrum von Ungleichheiten und Diskriminierungen verhandelt. Auf der Straße praktisch greifbar, reicht dieses von der ökologisch unsinnigen Bevorzugung des motorisierten Individualverkehrs oder der ungerechten Verteilung ökonomischer Ressourcen bis hin zu Rassismus, Antisemitismus, Sexismus, Homophobie, Ableismus oder Ageismus.

Womöglich haben progressive Kräfte in den vergangenen Jahren den Blick tatsächlich zu sehr von der Straße abgewandt; das Verhältnis zu ihr ist gegenwärtig eher funktional, etwa als Strecke zwischen Anfangs- und Endpunkt von Demonstrationen. Selbst genuin urbane Bewegungen wie die wohnungspolitische interessieren sich mehr für Angelegenheiten, die sich hinter den Hausfassaden abspielen. Und versuchen grüne und rote Lokalregierungen nicht sowieso schon seit längerem, die Härten der Straße abzumildern? Mit Verkehrsberuhigung, Begrünung oder Barrierefreiheit oder der Ausrichtung von Festivals und bunten Paraden als Ausdruck akzeptierter Vielfalt? Solche Maßnahmen beschränken sich allerdings auf vergleichsweise wenige Kommunen im Globalen Norden, in den meisten Ballungszentren dieser Welt schaut unter dem Pflaster nur selten der Strand hervor. Nicht zuletzt deshalb sind sie zu besonderen Hotspots des Klimawandels geworden.

Damals in der Claremont Road

Wie kann also gegenwärtig das utopische Potenzial der Straße imaginiert und sogar gelebt werden? Um diese Frage zu beantworten, lohnt es sich, auf der Zeitleiste just zu der Phase unmittelbar vor den globalisierungskritischen Gipfelprotesten zurückzuwandern. Sowohl Aktionsformate, die später in Seattle, Prag oder Genua zu bestaunen waren, als auch das dort sichtbare Bemühen um eine Konvergenz von Kämpfen gegen unterschiedliche Herrschaftsverhältnisse gab es schon in einer Bewegung, die in der ersten Hälfte der neunziger Jahre zunächst in London in Erscheinung trat: Reclaim The Streets (RTS).

RTS entstand, als der radikalökologische Protest, der sich seit Ende der achtziger Jahre insbesondere gegen den Straßenneubau im ländlichen Südengland formiert hatte, in den urbanen Raum schwappte. Bei der Besetzung der Claremont Road, einer Wohnstraße im Osten Londons, die einer Stadtautobahn weichen sollte, verschmolz der Protest mit den Kämpfen gegen die Zumutungen der neoliberalen Stadtentwicklung sowie gegen die Kriminalisierung alternativer Lebensstile, wie der damals viele britische Jugendliche elektrisierenden Rave-Szene. Nach Räumung der Claremont Road folgerten Aktivist:innen aus ihrer Erfahrung mit den Ausgrenzungen, die militante Besetzungen mit sich bringen, dass ein städtischer Protest, der die Straße für sich reklamiert, weniger konfrontativ als vielmehr fluide, spontan, phantasievoll und inklusiv sein sollte.1Siehe auch: Oliver Pohlisch, Reclaim the Streets London. Geschichte und Ambivalenz einer urbanen Bewegung, Institut für Kultur- und Kunstwissenschaften, Humboldt Universität Berlin, Magisterarbeit, 2002.

Foto: Alberto via wikimedia commons

Eine frühe RTS-Aktion sah typischerweise so aus: Auf einer Londoner Straße bauten Aktivist:innen wie aus dem Nichts mit zwei Autos einen Unfall, der den Verkehr zu Stillstand brachte. Ein mobiles Soundsystem wurde auf die Fahrbahn gerollt, begleitet von hunderten, über SMS an den Ort des Geschehens gelotsten Menschen. Diese tanzten nun entweder zur Musik aus den Lautsprecherboxen oder nutzten die Straße für ein Picknick, um Frisbee, Federball und Fußball zu spielen, um den Asphalt zu besprühen sowie um in kleinen Gruppen zu diskutieren. Da sich manche kostümierten, nahm die Aktion karnevaleske Züge an. Es dauerte, bis die von dem Ereignis überraschte Polizei zur Stelle war. Bevor sie schwerfällig einen Plan entwickelt hatte, wie sie Herr der Lage werden könnte, hatte sich die Party schon wieder aufgelöst.

Die Aktion war schwer lesbar für die Staatsmacht, weil diese keine Figuren ausmachen konnte, die den Verlauf kontrollierten und dominierten. Doch obwohl niemand zur gesamten Menge sprach und auch sonst nur wenige Buchstaben die Straßenbesetzung begleiteten, war deren Stoßrichtung leicht nachvollziehbar: Im Hier und Jetzt sollte eine hierarchiefreie Situation geschaffen werden, in der die Vision einer städtischen Gesellschaft jenseits der dominanten Marktlogik wenigstens für ein paar Momente real wird.

Wo, wenn nicht auf der Straße, könnte das sonst geschehen? Unterworfen von der Verkörperung des fossilen Kapitalismus, dem Automobil, wohnt ihr doch zugleich die Verheißung von Aufbruch, Freiheit und Abenteuer sowie die der Begegnung und des Zusammenseins mit Menschen jenseits des familiären Nukleus inne. Die Straße erobern hieß, genau diese Qualitäten dem primär der Profitmaximierung gehorchenden Verkehrsstrom zu entreißen. Die RTS-Aktivist:innen nahmen erkennbar Anleihen bei der Situationistischen Internationale, die während der sechziger Jahre mit ihrem Streben nach der Grenzauflösung zwischen Kunst und Leben auch die Stadt auf den Kopf stellen wollte.

Temporäre autonome Zone

Die Straßenbesetzungen pflanzten sich nach Manchester, Paris, Brüssel, Amsterdam oder New York fort – gemäß dem Konzept der temporären autonomen Zonen des im Mai 2022 verstorbenen Künstlers und Philosophen Hakim Bey. Um für die Herrschenden unberechenbar zu bleiben, durften diese weder zu fest umrissen noch von Dauer sein, konnten aber, da sie sich längst in der Imagination der Menschen festgesetzt hatten, immer wieder zu unerwarteten Zeitpunkten an den überraschendsten Orten materielle Gestalt annehmen.2Hakim Bey, TAZ: The Temporary Autonomous Zone, Ontological Anarchy, Poetic Terrorism, Autonomedia, New York, 1991.

Weil sie sich schon länger nirgendwo mehr gezeigt hat, ist die RTS-Bewegung heutzutage immer weniger Menschen bekannt. Als diese zum Beispiel 1998 gerade in Berlin angekommen war, hatten die Londoner Aktivist:innen längst ihre Grenzen und Leerstellen ausgelotet. Als Konsequenz daraus skalierten sie ihr Engagement auf der globalisierungskritischen Ebene, womit sie im Begriff waren, die Straße als konkrete Landepiste utopischen Überschusses schon wieder zu verlassen. Immerhin wanderte ihre Idee währenddessen nicht nur rund um die nördliche Erdhalbkugel sondern bis nach Sydney, wo im November 2019 ein letztes Mal ein Soundsystem unter Verwendung des RTS-Labels die Menge auf einer vom Autoverkehr befreiten Straße zum Tanzen gebracht haben soll.

Was der Straßenparty fehlte

Ist Reclaim The Streets zu Recht wieder in der Versenkung verschwunden? Die Schwächen der Bewegung lagen schnell auf der Hand: So nahm ihre hauptsächliche Aktionsform, die Straßenparty, nach der x-ten Ausgabe fast schablonenhafte Züge an und war somit für Ordnungshüter:innen immer leichter in Schach zu halten. Sie drohte ihren Charakter der temporären autonomen Zone zu verlieren und sich jenen kuratierten Umzügen anzunähern, mit denen Kommunen letztlich auch im interurbanen Wettbewerb um die Gunst von Tourist:innen und den Zuzug der kreativen Klasse buhlen.

Außerdem kann ihr Anspruch, im Moment des Geschehens gesellschaftliche Ausschlüsse aufzuheben, als nicht eingelöst gelten. Des Öfteren wurde RTS das Fehlen feministischer, antirassistischer oder queerer Perspektiven angekreidet. Dabei ermöglichte doch gerade die städtische Straße die Verknüpfung dieser Perspektiven mit den ökologischen, antikapitalistischen und anarchistischen Strömungen, die RTS wesentlich grundiert hatten.

Dass etwas nicht zusammenkam, obwohl es zusammenpasste, lag auch daran, dass die Bewegung die intuitive Handlung der inhaltlichen Vermittlung vorzog. Mehr Texte und Reden hätten das intersektionale Potenzial der Straßenparty womöglich stärker zum Leuchten bringen können. Doch wurde gefürchtet, sie würden dem Ereignis zu sehr einen Stempel aufdrücken. Was dem Wort verwehrt wurde, schien wiederum einer Musik erlaubt, deren Lautstärke und zumeist repetitiver Charakter nicht auf alle Menschen einladend wirkten. Im ungünstigsten Fall konnten sich RTS-Aktionen zu rein hedonistischen Raves auswachsen, an deren Ende alkoholisierte Teilnehmer:innen in Auseinandersetzungen mit der Polizei gerieten.

Was sich jedoch von Reclaim The Streets noch heute fruchtbar machen lässt, ist der Versuch, über die bloße Kritik am Zustand der Gegenwart hinauszugehen und eine quasi-utopische Situation herzustellen.

Neuer Zyklus des radikalökologischen Protests

Die großen Gipfelproteste sind Vergangenheit, das kapitalistische System produziert aber munter weiter alle möglichen Krisen wie zuvorderst die Klimakatastrophe, die den Menschen das Leben erschwert oder gar verunmöglicht. In Deutschland wiederholt sich kurioserweise der Zyklus des ökologischen Protests aus dem Großbritannien der frühen neunziger Jahre. Die Schwerfälligkeit, mit der staatliche Stellen auf die Erderwärmung reagieren, radikalisiert die Umweltbewegung, die nun von Gruppierungen wie Extinction Rebellion, Letzte Generation oder Ende Gelände getragen wird. An den Kanten des rheinischen Tagebaus oder in hessischen Wäldern entstehen permanente Camps, in denen – in zwangsläufiger Konfrontation mit den Wachleuten des überholten fossilen Regimes – eine alternative Realität vorgelebt wird.

An diesen Zukunftslaboren kann nicht partizipieren, wer sein Unbehagen über den Verschleiß des Planeten kundtun will, aber an die Stadt gebunden ist. Kommt der radikalökologische Protest doch mal bis in die urbanen Zentren, verlangt er von seinen Teilnehmer:innen einen ähnlichen Körpereinsatz wie im Baumhaus oder in der Braunkohlegrube und verliert daher nichts von seiner sozialen Exklusivität. Bleibt dann nur noch die Fridays-For-Future-Demo auf polizeilich genehmigter Route.

Obwohl jeweils am entgegengesetzten Ende der Militanz-Skala angesiedelt, sind weder Fridays or Future noch Extinction Rebellion darauf ausgerichtet, Utopisches auf vergnügliche Art Wirklichkeit werden zu lassen und zudem erstaunlich monothematisch. Dabei könnten sich die Klimaaktivist:innen auf der städtischen Straße ohne weiteres mit der wohnungspolitischen Bewegung und mit Black Lives Matter treffen – für eine überraschende Reclaim-The-Streets-Aktion, die nicht nur den Autoverkehr zum Erliegen bringen, sondern die Zusammenhänge zwischen Gentrifizierung, Rassismus und Ressourcenzerstörung verdeutlichen und zudem die Möglichkeit ihrer Überwindung feiern könnte, mit allem, was eine Party so ausmacht.

Reclaim The Streets reloaded?

Reclaim The Streets ist bis heute kein geschütztes Label, kann also von allen möglichen Akteur:innen adaptiert werden. Dabei ist festzuhalten, dass es von rechter Seite noch keinen ernsthaften Versuch gab, die Bewegung zu kapern, obwohl Raumnahme doch von zentraler Bedeutung für die faschistische Wunschproduktion ist. Aber womöglich lässt die Chronik von Reclaim The Streets einfach keine reaktionären Umdeutungen zu.

Schon, um die Straße den Propagandist:innen der Ungleichheit nicht als Projektionsfläche für ihre Dystopien zu überlassen, sollte es bitte schön mal wieder eine Aktion geben, die die Reclaim-The-Streets-Bewegung in ihrem originären Sinne fortschreibt, ließe sich hier hinzufügen. Doch eine Straßenparty ist selbstverständlich keine Sache, die sich auf Bestellung ereignet. Sie wäre keine temporäre autonome Zone, tauchte sie nicht genau dann auf, wenn niemand sie auf dem Schirm hat. Ob sie im Moment ihrer Existenz von möglichst vielen erkannt und mitgestaltet wird, hängt davon ab, wie sehr sich Menschen eine solche Zone überhaupt noch vorstellen können. Von Zeit zu Zeit einen Blick auf die Geschichte von Reclaim The Streets zu werfen, mag aber der kollektiven Imaginationskraft auf die Sprünge helfen.

Fußnoten