Gemeine Stadt.

Daseinsfürsorge

Wenn Fürsorge Wert schafft und
Grün das neue Gold ist

Sonja Hornung

28 Gedanken über Signa, ESG, und die Inszenierung kollektiver Sorgearbeit1“Care Creates Value” und “Green is the New Gold” sind die Titel der zwei Nachhaltigkeitsberichte, die Signa im Jahr 2000 veröffentlicht hatte.

1

Auf dem Hermannplatz gibt es einen Markt, auf dem an den meisten Wochentagen Crêpes, Obst und Gemüse, frischer Fisch, Börek, Gözleme, Oliven, verschiedene nützliche Werkzeuge, Armbanduhren, Currywurst, Fischbrötchen, Schuhe, Kissen, ein Schlüsseldienst, Espresso, Empanadas, FPP2-Masken in allen Farben, „Revolution Burger“, frisch gepresster Orangensaft, Beratung für Menschen mit Glücksspielsucht, Plastikspielzeug, Bubble Tea, usw. angeboten werden. Der Boden ist mit Kippen übersät. Die goldene Skulptur eines tanzenden Paares, die seit 1985 auf dem Platz thront, ist in der Regel mit „Free Palestine“-Graffiti verziert und mit Taubenkot beschmiert. Im Sommer verwelken kleine kahle Bäume in Betonkästen. Im Winter zieht eiskalter Wind mit hoher Geschwindigkeit zwischen den drei- bis fünfstöckigen Gebäuden, die den Platz rahmen. So oder so, der Hermannplatz ist fast immer voller Menschen.

2

Der Hermannplatz wird von Karstadt dominiert, einem monolithischen Warenhaus. Das befindet sich zu hundert Prozent im Besitz der Signa Prime Selection AG, einer Sparte der österreichischen Signa Holding GmbH. 2014 hatte die Firma die Karstadt-Assets von dem deutsch-US-amerikanischen Investor Nicolas Berggruen für den symbolischen Preis von 1 Euro erworben.

3

Die Entlarvung der vielen Mythen rund um die Pläne von Signa für Karstadt am Hermannplatz – von den konservativen und revisionistischen Ursprüngen der von David Chipperfield Architects vorgeschlagenen Fassade2Niloufar Tajeri: „Eine Projektentwicklung der besonderen Art“, Marlowes, 03.03.2021, aufgerufen am 26.07.22. bis hin zu den dubiosen Finanzgeschäften des Unternehmens und den Verbindungen seines Geschäftsführers Rene Benko zur österreichischen rechtsextremen FPÖ3„Benkos Signa: Spurensuche im Schattenreich“, Addendum, 03.04.2020, aufgerufen am 26.07.22. – findet nur dank der fortlaufenden Arbeit der Aktivist*innengruppe Initiative Hermannplatz statt, die neben der Kiezversammlung 44, Kein Generalverdacht, BerlinerInnen gegen Signa, dem Mietenwahnsinnbündnis, Migrantifa Berlin und zahlreichen anderen selbstorganisierten Initiativen den Umbau des Warenhauses zu verhindern versucht.

4

Auch dieser Text wäre ohne die Vorarbeit der aktivistischen Gruppen nicht denkbar und dreht sich um drei Fragen: Was haben Immobilienunternehmen wie Signa davon, wenn sie sich als Unterstützer von kollektivem Handeln, Nachhaltigkeit sowie Pflege und (Für-)Sorgearbeit zu zeigen vermögen? Welche Rolle spielen „Environmental, Social, and Governance“-Kriterien (ESG) und Risokomanagement dabei? Und wo widersetzt sich die kollektive Pflege und (Für-)Sorgearbeit der Vereinnahmung durch eine gewinnorientierte unternehmerische Agenda?

5

Seit Herbst 2019 führt über den Parkplatz hinter Karstadt ein neuer Rad- und Fußweg, der es ermöglicht, die lärmenden Menschenmassen am Hermannplatz komplett zu umgehen. Neben der Fahrradspur befinden sich ein recycelter Container, eine neue Fahrradpflegeinfrastruktur und Permakultur-Gartenbeete – letztere gebaut in Zusammenarbeit mit Karuna e.V., derzeit einer der wichtigsten Berliner Anbieter von Unterkünften und Hilfe für Menschen, die auf der Straße leben.

6

Signa startete eine Werbekampagne mit dem Titel Nicht Ohne Euch!, in der der Container – gebrandet mit der Marke HRMNNBOX – als „erster Ort des Austausches auf dem ehemaligen Karstadt-Parkplatz“ beworben wurde.

7

Bei einem „Hoffest“ auf dem Parkplatz zur Eröffnung der HRMNNBOX am 26. Oktober 2019 veranstaltete Signa eine partizipative Planungswerkstatt zur Zukunft des Hermannplatzes, bot Aktionen für Kinder an, ließ Musikacts in Zusammenarbeit mit dem gemeinnützigen Verein Spotlight Talent auftreten, beauftragte Graffiti-Künstler:innen damit, einen Wandmalerei-Workshop durchzuführen, und bot einen Fahrradreparaturservice an. Videos und Fotos, die von Nicht Ohne Euch! in den sozialen Medien geteilt wurden, zeichnen das Bild einer diversen, engagierten Nachbarschaft ab.

8

In einem Video ist ein offensichtlich unaufgeforderter Redebeitrag eines Vertreters der selbstorganisierten Initiativen Mieterpartei und Wohnungslosenparlament zu sehen. Dieser weist darauf hin, dass die hohen Kosten des Karstadt-Umbaus zu drastischen Mietsteigerungen führen werden, die die kleinen Unternehmen im Gebäude und drumherum bedrohen.

9

Durch das „Hoffest“ und zahlreiche weitere Veranstaltungen ähnlicher Art inszeniert Nicht Ohne Euch! nachbarschaftliche Szenen, einschließlich scheinbar kollektiver Pflege und (Für-)Sorgearbeit (Kinderbetreuung, Urban Gardening, Engagement von Karuna e.V.), bis hin zu dem Versuch, sich Elemente des Dissenses, die Teil kollektiver Entscheidungsfindung sind, anzueignen.

10

Auf der Webseite von Nicht Ohne Euch! wird weiterhin verkündet: „Bei einem guten Kaffee, leckeren Brötchen oder einem kühlen Getränk freuen wir uns auf Ihre Anregungen, Wünsche und Sorgen rund um die Zukunft von Karstadt am Hermannplatz“.4Siehe https://nichtohneeuch.berlin/en/first-steps/, aufgerufen am 26.05.22. Doch die HRMNNBOX ist ein extern betriebenes, kommerzielles Café, der scheinbar öffentliche Fahrradweg befindet sich auf einem videoüberwachten Privatgelände, das von Arbeiter:innen einer anderen externen Firma geputzt wird, und gegenwärtig patrouilliert eine Sicherheitsfirma in dem trostlosen, längst von Unkraut überwucherten Gemeinschaftsgarten.

11

ESG bezieht sich auf Umwelt-, Sozial- und Corporate-Governance-Kriterien, die aus den vom Global Compact der Vereinten Nationen im Jahr 2015 definierten „Sustainable Development Goals“ abgeleitet wurden und seitdem von globalen institutionellen Anlegern wie BlackRock propagiert werden. In einem kürzlich erschienenen Bericht von Deloitte, einer der weltweit größten Wirtschaftsprüfungsgesellschaften mit Schwerpunkt Risikoberatung, wird darauf hingewiesen, dass die ESG-Agenda „Überlegungen zu den Auswirkungen von Immobilien auf das Gemeinwesen einschließt, die Aspekte wie Diversität umfassen“. Der Bericht fügt hinzu, dass „Investitionen allmählich auf den Widerstand der lokalen Gemeinschaft stoßen, was oft auf das Fehlen von ESG-Überlegungen zurückzuführen ist und zu kostspieligen Verzögerungen oder Änderungen des ursprünglichen Projekts führt.“5Francisco Da Cunha & Filipa Belchoir Coimbra: „The Impact of Social Good on Real Estate: Environmental, Social and Governance (ESG) as a value driver for real estate“, Deloitte, aufgerufen am 26.07.2022.

12

In einem Mitte 2020 online veröffentlichten Dossier6SIGNA Real Estate: „Nicht Ohne Euch! Gemeinsam die Zukunft von Karstadt am Hermannplatz gestalten!“, aufgerufen am 26.07.2022. bekräftigte Signa sein Engagement nicht nur für partizipative Planung, sondern auch für Energieeffizienz und Mobilität, einschließlich einer „ambitionierten Urban-Mining-Strategie“. Urban Mining zielt darauf ab, neue Märkte rund um die Digitalisierung und das Recycling bestehender Gebäudebestände zu erschließen.7Siehe zum Beispiel pom+ Deutschland GmbH und ZIA Zentraler Immobilien Ausschuss e.V.: „Gebäudetechnologie und Klimaschutz“, 2022, S. 17, aufgerufen am 26.07.2022. Als Signa noch plante, das Karstadt-Haus komplett abzureißen, warb das niederländische Unternehmen New Horizon dafür, den Beton zu verarbeiten und ihn wiederzuverwenden. New Horizon behauptete, die CO2-Belastung durch das Projekt so um mindestens 50 Prozent verringern zu können.8Siehe „New Horizon – Signa – Karstadt Berlin“, aufgerufen am 09.05.2022.

13

Signa propagiert außerdem einen verkehrsberuhigten Hermannplatz. Private E-Bike- und E-Auto-Verleihdienste sollen von Unternehmen angeboten werden, die Flächen im Erdgeschoss des umgebauten Karstadt mieten.9Ingo Kucz und Johanna Auferkamp, White Octopus GmbH: „Hermann und Henriette: Unsere Verkehrswende-Vision für das Karstadt-Gebäude und den Hermannplatz“, herausgegeben von: Berlin, Hermannplatz 5–10 Immobilien GmbH & Co. KG c/o SIGNA Real Estate Management Germany GmbH, Juni 2020, aufgerufen am 08.05.2022.

14

Von privatwirtschaftlicher Seite mitgeprägte Begriffe wie „Urban Mining“ und „Sharing Economy“ werden auf einen rechtlich öffentlichen Platz projiziert im Namen von „Nachhaltigkeit“ und einem „gemeinschaftlichen Zusammenhalt“. Doch angesichts der Tatsache, dass in Berlin etwa die Hälfte der Kohlenstoffemissionen aus dem Bausektor stammt, betont die Initiative Hermannplatz seit langem, dass es die am wenigsten kohlenstoffintensive Option wäre, Karstadt in seiner jetzigen Form einfach stehen zu lassen. Darüber hinaus wird die von Signa vorgeschlagene Entwicklung die derzeitige Quadratmeterzahl von Karstadt um 56 Prozent erhöhen und es so ermöglichen, einen beliebten Konsumort und Arbeitsplatz um Start-up- und Technologieunternehmen zu erweitern, die imstande sind, vielfach höhere Mieten zu bezahlen, und die das Gebäude in Zukunft vollständig einnehmen könnten.10Uwe Rada: „Signa mauert am Hermannplatz“, taz, 27.02.2022, aufgerufen am 08.05.2022. In einem Viertel mit einem hohen Anteil an Menschen mit geringem Einkommen und mit Migrationshintergrund werden die Mieten so weiter in die Höhe getrieben. Die private Überwachung wird zunehmen, wie schon auf dem Karstadt-Parkplatz zu beobachten ist. Der Hermannplatz ist von der Stadt Berlin als „kriminalitätsbelasteter Ort“ ausgewiesen. Das bedeutet, dass bereits die rechtlichen Voraussetzungen dafür geschaffen sind, den Platz für diejenigen, die dort schlafen oder durch informelle ökonomische Aktivitäten wie Betteln Geld verdienen, noch unangenehmer zu machen, während gleichzeitig rassistischen Polizeikontrollen Tür und Tor geöffnet wird. Werden die Pläne Signas umgesetzt, macht das den Hermannplatz für umweltbewusste, besserverdienende „Nutzer:innen“ attraktiver – dadurch, dass diejenigen, die dort bisher ihr Zuhause oder ihren Arbeitsplatz haben, vertrieben werden.

15

Anfang 2021 stellte der deutsche Staat Signa ein Darlehen in Höhe von 460 Millionen Euro zur Verfügung, um den Betrieb der Galeria-Karstadt-Kaufhof-Häuser in der Corona-Pandemie sicherzustellen.11„Galeria Karstadt Kaufhof beantragt weitere Staatshilfen“, Wirtschaftswoche, 07.12.2021, aufgerufen am 26.07.2022. Darüber hinaus bürgte die Stadt für ein privates Kreditdarlehen an die Firma in unbekannter Höhe. Wenig später schalteten sich Kultursenator Klaus Lederer (Linke), die damalige Wirtschaftssenatorin Ramona Pop (Grüne) und der damalige Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) ein, um die Baupläne von Signa für den Hermannplatz durch eine Absichtserklärung vorzubestimmen.12Siehe Pressemitteilung vom 03.08.2020 der Berliner Senatskanzlei, aufgerufen am 26.07.2022. Vor diesem Hintergrund wurde die „Partizipative Grundlagenermittlung“, die der Senat Ende 2021 durchführte, als verspätetes Nachspiel empfunden und von Anwohnenden als „Partizipations-Show“ scharf kritisiert.13Siehe BerlinerInnen Gegen Signa: „Eine absurde Vorstellung: Der Start des Beteiligungsverfahrens beim Projekt „Karstadt am Hermannplatz“, 13.11.2021, aufgerufen am 26.07.2022 und Initiative Hermannplatz: „Beteiligung von oben nach unten“, 08.11.2021, aufgerufen am 14.05.2022.

16

In Bezug auf die Einhaltung von ESG, stufte die ESG-Ratingagentur Sustainalytics Ende März 2021 die Signa Development Selection AG als zweitbestes Unternehmen unter 278 vergleichbaren Firmen der Immobilienentwicklungsbranche ein.14SIGNA Development Selection AG: „Care Creates Value“, 28.05.2021, aufgerufen am 13/05/22.

17

Sustainalytics gehört Morningstar, Inc., einem US-amerikanischen Finanzdienstleister, der häufig mit der Weltbank zusammenarbeitet. Wie seine Konkurrenten macht auch Sustainalytics sein Benchmarking-Protokoll und seine Kriterien nicht öffentlich zugänglich15Siehe z.B. Daniela Gabor: Securitization for Sustainability: Does it help to achieve the Sustainable Development Goals?, Heinrich Böll Stiftung North America, Washington, 2019, S. 9., wirbt aber für seine Dienstleistungen, wobei es ESG als Risikomanagement darstellt. So sind beispielsweise hohe CO2-Emissionen, die mit den Aktivitäten eines Unternehmens verbunden sind, ein Risiko, weil sie „regulatorische Belastungen und damit verbundene Betriebskosten“ verursachen können.16Melissa Chase: „High-Impact ESG Issues: What Your Company Needs To Know“, Morningstar Sustainalytics, 03.05.2022, aufgerufen am 13.05.2022. Sustainalytics zielt zwar darauf ab, „aufzuzeigen, wie stark ein Unternehmen einer Reihe von wesentlichen ESG-Risiken ausgesetzt ist“, misst aber auch, „wie gut“ ein Unternehmen „diese Risiken managt“.17 Adam Gorley: „What is ESG and Why It’s Important for Risk Management“, Morningstar Sustainalytics, 02.03.2022, aufgerufen am 14.05.2022.

18

Die Bewertung der Exposition von Signa Development Selection AG gegenüber „sozialen Risiken“ (das, was Deloitte als „Widerstand der lokalen Gemeinschaft“ beschreibt) als gering, stützte Sustainalytics in einer sogenannten Second-Party-Opinion (SPO) zu Signas „Green Finance Framework“18„Second-Party Opinion: SIGNA Development AG Green Finance Framework“, Morningstar Sustainalytics, 01.04.2021, aufgerufen am 14.05.2022. lediglich auf das Versprechen des Unternehmens in einem veralteten Nachhaltigkeitsbericht aus dem Jahr 2019, „die lokale Gemeinschaft von der Anfangsphase bis zur Fertigstellung von Entwicklungsprojekten einzubeziehen, um ihre Meinungen in den Entscheidungsprozess einzubringen.“19Ibid.

19

Die wohlwollende SPO und das positive ESG-Ranking von Sustainalytics ermöglichten es der Signa Development Selection AG, Mitte 2021 eine grüne Anleihe im Wert von 300 Millionen Euro zu platzieren – nachdem sie ein Jahr zuvor erfolglos versucht hatte, eine Anleihe in gleicher Höhe in Zusammenarbeit mit der Credit Suisse zu verkaufen.20„Benkos Signa: Spurensuche im Schattenreich“, Addendum, 03.04.2020, aufgerufen am 26.07.22. Nach offiziellen Angaben sollen die Gewinne aus der Anleihe wieder in ein „grünes“ Projekt investiert werden.21Marton Eder: „Austrian Billionaire Joins Green Rush With Rare Public Bond“, Bloomberg, 13.07.2021, aufgerufen am 13.05.2022. Signa ist jedoch nicht an dieses lose Versprechen gebunden und verwendet das Geld womöglich stattdessen zur Refinanzierung erheblicher, bereits bestehender Unternehmensschulden.22“The Company will establish a new registry to track allocation of net proceeds to a Green Portfolio of assets. […] Pending full allocation, SIGNA Development will hold unallocated proceeds in cash, cash equivalents, or debt refinancing in line with internal policies.” Zitiert aus „Second-Party Opinion: SIGNA Development AG Green Finance Framework“, Morningstar Sustainalytics, 01.04.2021, aufgerufen am 14.05.2022.

20

Mit ESG können Unternehmen wie Signa nicht nur die Bausubstanz der Stadt, sondern auch kollektive Praktiken der Pflege und (Für-)Sorgearbeit in Wert setzen.

21

Inszenierte Bilder von Kollektivität, Gemeinschaft, sowie von Pflege und (Für-)Sorgearbeit sollen einen Schutz vor Protest garantieren. Wenn Unternehmen wie Signa solche Bilder der gemeinschaftlichen Zustimmung erzeugen, spielen sie das potenzielle Risiko eines Widerstands herunter. Dabei sichern sie den Zugang zu neuen, „grünen“ finanziellen Produkten und treiben profitorientierte, CO2-lastige Gentrifizierungsprojekte voran. Signa setzt diese Strategie im Rahmen anderer Projekte eifrig fort, darunter mit dem Container-Ensemble POP.KUDAMM in Berlin-Charlottenburg, an dem sich sogar staatliche Partner wie die Stadtmanufaktur, die Technische Universität und die Universität der Künste Berlin beteiligen.

Gleichzeitig werden reale kollektive Tätigkeiten sowie die eigentliche Pflege und (Für-)Sorgearbeit in der gentrifizierenden Stadt – die nie aufhören können – weiterhin abgewertet und unsichtbar gemacht.

22

Die Politikwissenschaftlerin und Schwarze Feministin Françoise Vergès weist darauf hin, dass die Arbeit, gentrifizierte Orte „sauber und grün“ zu halten, weitgehend prekarisiert, feminisiert und/oder rassifiziert ist. Was bedeutet, dass sie von Menschen aus der Arbeiter:innenklasse, Frauen* und/oder migrantisierten Menschen geleistet wird, die oft strukturell von den Orten der Arbeit, der Freizeit und des Vergnügens, die sie pflegen und für die sie Sorge tragen müssen, ausgeschlossen sind – während vorrangig weiße Menschen aus der Mittel- und Oberschicht diese Tätigkeiten, von denen sie profitieren, weder sehen noch anerkennen müssen.23Françoise Vergès: “Capitalocene, Waste, Race, and Gender”, e-flux journal #100, May 2019.

23

Parallel zu diesen toxischen Verhältnissen kämpfen viele städtische Initiativen dafür, einen gerechteren Zugang zu städtischen Räumen zu gewährleisten. Auch dabei spielen Praktiken der Pflege und (Für-)Sorgearbeit eine zentrale Rolle und sind gegenseitig voneinander abhängig.24Siehe auch Sonja Hornung, “Produktion und Reproduktion”, Lexikon im Rahmen der Ausstellung “gegen\archive: wer bleibt wo”, Prater Galerie zu Gast bei ACUD MACHT NEU, 20.11.21–30.01.22.

24

Gegen den diskriminierenden Ausschluss vom Wohnungsmarkt kann nur aufbegehrt, gegen Racial Profiling kann nur gekämpft, Mieter:innen können nur beraten, Zwangsräumungen können nur verhindert, verschwenderischer Leerstand kann nur gemieden, (Gemeinschafts-)Wohnungen oder zugängliche Treffpunkte können nur kollektiv instandgehalten und Pflanzen und Tiere in den Naturräumen und gemeinschaftlichen Gärten der Stadt können nur geschützt werden, wenn für den Zusammenhalt in und zwischen den städtischen Initiativen gesorgt wird: wenn Plena moderiert, Protokolle geführt, Mailinglisten gepflegt, Säle geputzt, Netzwerke geknüpft und Koalitionen gebildet werden. Die kollektive Selbstorganisation dieser Aufgaben kann es ermöglichen, soziale und physische Räume zu gestalten, in denen Alternativen zu kapitalistischen Wohn- und Arbeitsverhältnissen ansatzweise artikuliert und praktiziert werden. Doch auch kollektive Selbstorganisation ist in einem hohen Maß mit (Selbst-)Ausbeutung verbunden. Für viele ist dies eine zusätzliche Belastung zur anderweitig (zu Hause, am Arbeitsplatz) geleisteten, oft feminisierten Sorgearbeit, was bedeutet, dass (raum)pflegerische Aufgaben in der kollektiven Selbstorganisation vor allem von Frauen bis an den Rand der Erschöpfung ausgeführt werden. Die Unsichtbarmachung und Einhegung oder auch die Romantisierung einer solchen Arbeit ist nie weit entfernt. Sie kommt nicht nur von „außen“ – zum Beispiel durch ESG-Modelle wie das von Signa –, sondern ist generell in kollektive Praktiken eingebettet, auch wenn aktiv dagegen gesteuert werden kann.

25

Als ich Niloufar Tajeri von der Initiative Hermannplatz fragte, wie sich die Gruppe organisiert, antwortete sie – in Anerkennung der obengenannten Dynamik und um der akademischen Romantisierung der kollektiven Arbeit zu entgehen – wie folgt: „Wir organisieren uns wann, wenn, und wie wir es können.“

26

Vor kurzem hat die Initiative Hermannplatz einen verlassenen Kiosk vor Karstadt für den symbolischen Preis von 1 Euro erworben.

27

Es überrascht vielleicht nicht, dass die Aktivist:innen der Initiative als Erstes tagelang geputzt haben, um die Innen- und Außenflächen des Kiosks von jahrzehntealtem Frittieröl, Müll, Tauben- und Rattenkot zu befreien. Über einen Gießplan für einen kleinen Gemüsegarten unter einem benachbarten Baum wurde sich mündlich verständigt. Der Kiosk dient nun als deutlich sichtbarer Treffpunkt für Aktivist:innen und Anwohner:innen – und ist damit ein ständiger Dorn im Auge von Signa.

28

In diesem Sinne wäre die Frage hier nicht nur: Wem gehört die Stadt? – sondern auch: Wer putzt sie? Wann sind kollektive Akte der Pflege und (Für-)Sorgearbeit auch Akte des Widerstands?

„Es gibt eine Gentrifizierung von Gebäuden und Stadtvierteln – und eine von Ideen.“

New York Values, Performance von Penny Arcade, 199625“Care Creates Value” und “Green is the New Gold” sind die Titel der zwei Nachhaltigkeitsberichte, die Signa im Jahr 2000 veröffentlicht hatte., zitiert in Sarah Schulman: The Gentrification of the Mind, 2012, S. 29.

Fußnoten