Gemeine Stadt.

Unruhe/n

„Wir verändern die Welt durcheinander“

Friederike Habermann, Sabrina Dittus

Sabrina Dittus: Liegt Unruhe in der Luft? Und wenn ja, wie würdest Du sie beschreiben?

Friederike Habermann: Auf jeden Fall spüre ich Unruhe. Aber nicht bei allen ist es die Panik, zu der uns Greta Thunberg schon vor Jahren aufgerufen hat. Bei vielen vermute ich eine innere Unruhe, die darin gründet, eigentlich zu wissen, dass die Katastrophe da ist, aber nicht zu wissen, was zu tun ist, und deshalb ganz still zu halten.

Vorträge beginne ich derzeit oft mit einem Video-Standstill, das eine Hamburger Fähre zeigt in dem Moment, als durch die zerborstenen Fenster sich bereits eine riesige Flutwelle in den Passagierraum ergießt und noch alle dasitzen und in ihre Bücher oder Smartphones schauen, als sei nichts passiert. Dieses Foto ist für mich zum Sinnbild unserer heutigen Situation geworden.

Laut Donna Haraway ist es „unsere Aufgabe, Unruhe zu stiften, zu wirkungsvollen Reaktionen auf zerstörerische Ereignisse aufzurütteln“. Stimmst Du mit ihr überein, und inwiefern beschreibt das Deine Agenda als Aktivistin?

Auf jeden Fall möchte ich zu wirkungsvollen Reaktionen auf zerstörerische Ereignisse anregen! Das nennt man auch agitieren, nicht wahr? Im Spanischen steht agitar dafür, entweder etwas zu schwenken, zu schwingen oder jemanden zu rütteln, zu schütteln oder halt aufzuwiegeln. Ja, das sind alles Formen von Unruhe stiften. Und ich glaube, wenn wir aktiv werden, dann ist es fundamental wichtig, die Menschen dabei mit in eine Bewegung des Aufbruchs zu bringen, die ihrer inneren Unruhe ermöglicht, nach Außen aktiv zu werden.

Doch was mich derzeit wirklich fasziniert, ist der Begriff AUFHÖREN, wie ihn Marianne Gronemeyer benutzt. Martin Kirchner und Hemma Rüggen von den Pioneers of Change schrieben, davon inspiriert, kürzlich darüber, wie schwer es ist, von alten Gewohnheiten loszukommen; dass diese wie eine Sucht sein können. Und dass auch das kollektive Aufhören schwierig ist: aufhören, Böden zu versiegeln, fossile Brennstoffe zu nutzen oder alte Freund-Feind-Schemata zu bedienen. Doch wenn wir mit dem AUFhören beginnen würden, werde innerlich Raum für ein anderes AufHÖREN: auf das, was uns das Leben sagen will, auf das, was wirklich wesentlich ist. Wenn wir also AUFHÖREN, könne sich zeigen, was anfangen will.

Wichtig hierbei ist mir auch die postkoloniale Theorie: Hier wird verneint, dass die am meisten am Bestehenden Leidenden, also die „Subalternen“, gesellschaftlich gehört werden. In diesem Sinne müssen wir also AUFhören: Damit, jeden Tag wieder Kapitalismus zu machen. Oder was sonst gerade von uns verlangt wird, um so tun zu können, als gäbe es keine Krisen. Als gäbe es kein massives und vermeidbares Leid an den Verhältnissen. Aber eben auch aufHÖREN. Um uns für dieses Leid zu öffnen. Für die Schreie, die bislang verhallen.

Insofern ist für mich das Bild der Transformation nicht ganz einfach so gleichzusetzen mit Unruhe. Sondern auch mit zur Ruhe kommen. Durchatmen. AUFHÖREN. Aber klar, dann braucht es auch: in die Bewegung kommen; dann braucht es auch: eine kollektive Bewegung, um wirklich Veränderung bewirken zu können.

Als wie wirksam bewertest Du Deinen bisherigen Aktivismus?

Nun, Aktivismus lässt sich wohl kaum quantifizieren. Er lässt sich auch nicht individuell denken: Ich bin inspiriert durch andere, immer wieder aufs Neue. Und ich bin dankbar zu wissen, dass ich auch andere inspirieren durfte, deren Tun ich extrem schätze.

Wobei das jeweils ja auch keine Zweier-Inspirationen sind. Wahrscheinlich liegt schon ein Fehler darin, sich getrennt zu denken. Wie war noch der Buchtitel von Jean-Luc Nancy, den Du auf der Tagung brachtest? „Singulär plural sein“. Das eine schließt das andere nicht aus. Wir verändern die Welt durcheinander – dieser Begriff des „durcheinander“ ist mir extrem wichtig geworden. Natürlich nicht, weil ich etwa ungern aufräume oder pures Chaos liebe. Sondern in der Art, wie ihn die Schweizer Feministin Ina Praetorius benutzt: als das Werden durch andere. Oder wie das Grundprinzip der afrikanischen Commons-Philosophie und Lebensweise Ubuntu lautet: „Ich bin, weil ihr seid“. Ohne einander, ohne voneinander gelernt zu haben, könnten wir ja noch nicht einmal gehen und sprechen!

Auch spielt beim Durcheinander-in-die-Bewegung-kommen eine Rolle, was Stefano Harney und Fred Moton in ihrem Ansatz der „Undercommons“ als „Haptizität“ fassen: „die Fähigkeit, durch andere zu fühlen sowie dass andere durch dich fühlen und dass du fühlst, wie sie fühlen“. Erst dieses Durcheinander bewegt Menschen, auch dort aktiv zu werden, wo die eigenen Privilegien in Frage gestellt werden könnten.

Nochmal zum „Richtig unruhig bleiben“, dem Titel unseres Gesprächs auf der Veranstaltung zu „Unruhe/n“: Geht das als Aktivistin, vor allem über einen Zeitraum von 40 Jahren? Haben sich Deine Strategien da möglicherweise auch verändert?

Ganz persönlich befolge ich wohl bereits viel von dem, was derzeit öfter in den Medien als Tipp für alle zu lesen ist, um sich dem Leid in der Welt nicht allzu sehr auszusetzen: Ich öffne mich dafür nur gemäßigt. Das Elend permanent ungefiltert an mich heranzulassen, etwa durch die Sozialen Medien, ohne dass ich Wege sehe, dagegen etwas tun zu können, nützt niemandem. Doch klar: Wer sich dem zu sehr oder gar völlig verschließt, wird gar nicht erst darüber ins Sinnen kommen, was getan werden kann. Nimmt die Sturmwelle nicht wahr. Versteht vielleicht gar nicht, wie viele bereits von ihr verschlungen werden.

Wird mir diese Frage gestellt, habe ich eigentlich das Bild, dass ich mich behandle wie eine eigene Tochter: Ja, ich will, dass Du alles einbringst in die Welt, was du zu geben hast. Aber ich will auch, dass du auf Dich aufpasst. Und das tue ich.

Als Historikerin bin ich mir natürlich bewusst, dass es in der Geschichte immer Elend gegeben hat. Und dass so viele für mich bereits erfolgreich gekämpft haben. Zum Beispiel um materielle Absicherung: Ich kann leben, ohne mich dafür kaputt arbeiten zu müssen. Oder gegen das Patriarchat: Ich muss nicht mehr leben wie meine Mutter, die als Hausfrau in Depressionen versank. Ich nehme diese hart erkämpften Geschenke dankbar an und möchte sie und weitere kraftvoll weitergeben können.

Gerade heute erreichte mich ein Kommuniqué der Zapatistas, der indigenen Widerstandsbewegung aus Chiapas, Mexiko. Es ist das zwölfte einer aktuellen Reihe. Zufälligerweise nehmen sie fast das eingangs beschriebene Bild, das mich seit einiger Zeit begleitet. Ich mag mal zitieren: „als ob wir den Sturm nicht sehen würden – angesichts des schrecklichen Unwetters, das bereits alle Winkel des Planeten trifft, einschließlich derer, die sich vor all dem Schlimmen so sicher glaubten“. Und dann greifen sie indirekt ein anderes Bild auf, das mich auch sehr bewegt, wenn es vielleicht auch kaum mehr Ruhe ausstrahlen könnte: das des „Kompostaktivismus“. Was das ist? Nun, in ihren Worten, ich zitiere wieder: „Nicht nur sehen wir den Sturm und die Zerstörung, den Tod und Schmerz, den er mit sich bringt. Wir sehen auch, was daraus folgt. Wir möchten das Saatkorn eines kommenden Wurzelwerks sein, welches wir nicht sehen werden – und das später wiederum die Grasdecke sein wird, welche wir ebenso nicht sehen werden. Der zapatistische Aufruf, falls eine*r uns drängt, es kurz und knapp zu definieren, lautet somit: ‚gutes Saatkorn zu sein‘“.

Gemeinsam, miteinander unruhig bleiben und zwar produktiv – wie geht das für Dich? Wie kann es uns als politische Subjekte gelingen, unsere Ängste, Unsicherheiten, aber auch die Wut in gemeinsamen Widerstand zu verwandeln?

Eigentlich ist doch alles ganz einfach: Wir könnten aufhören, immer nur Kapitalismus zu machen und stattdessen für das Leben sorgen – hier und jetzt. Klar, wir stecken in unseren Zwängen des Geldverdienens, des Mietezahlens etc.. Aber persönlich und gesamtgesellschaftlich finden sich immer Möglichkeiten, sich für das Leben und gegen die Marktlogik zu entscheiden. Und je weniger der Markt bestimmt und desto mehr wir bestimmen, um so demokratischer regeln wir die Welt. Miteinander. Und wenn wir das tun, tun wir nichts anderes als Commons oder Commoning. Commons entstehen, wenn wir gleichberechtigt miteinander die Bedürfnisbefriedigung regeln – egal, wie klein oder groß das ist, wo wir das tun. Also sprechen wir vom Netzwerk Oekonomischer Wandel (NOW NET), von Markt abbauen, Demokratie ausbauen und Commons aufbauen als die drei Wege hin zum guten Leben für alle.

Und nochmals zu Haraway: Sie schreibt, es sei nicht nur unsere Aufgabe, Unruhe zu stiften, sondern auch „die aufgewühlten Gewässer zu beruhigen, ruhige Orte wieder aufzubauen“ – Wie können die für Dich aussehen, verstanden als gesunde Orte des Widerstands?

Immer öfter ziehen Menschen, deren Tun diesem guten Leben für alle dient, zusammen. Wir organisieren uns untereinander, erleichtern uns gegenseitig, für die Transformation zu wirken, ohne nur individuell den Strukturen ausgeliefert zu sein. Das jüngste hier im Ort angesiedelte Hausprojekt heißt „Hafen“. Ein sehr passender Name! Dabei bleiben unsere Projekte andockbar, sei es als Vernetzung mit ähnlichen Orten, sei es ins eigene lokale oder ins gesellschaftliche Umfeld hinein.

Hast Du Utopien? Wenn ja, wie sehen die aus?

Utopien langweilen mich eigentlich. Da beschreibt beispielsweise William Morris um 1890 in seiner „Kunde von Nirgendwo“ die ideale Gesellschaft – doch die Frauen kochen darin glücklich Kaffee für die Männer. Marx und Engels seien Feinde der Utopie gewesen, „um deren Verwirklichung willen“, schrieb entsprechend Theodor Adorno. Ich halte es viel mit dem von Eduardo Galeano wiedergegebenen Bild, dass die Utopie wie der Horizont ist: Wenn wir uns in ihre Richtung bewegen, verschiebt sich auch die Utopie. Weil wir auch gar nicht dieselben bleiben in der gesellschaftlichen Veränderung, weil sich uns neue Möglichkeiten auftun. Oder nochmals mit den Zapatistas gesprochen: „Wir gehen fragend voran“.

Ejército Zapatista de Liberación Nacional, Zapatista Encuentro, 1996. Foto: Julian Stallabrass via wikimedia commons.