Die Frage nach dem Zuhause beinhaltet unendlich viele Aspekte. Dem Thema können wir uns annähern, wenn wir zum Beispiel zwischen „Zuhausesein“ und „ein Zuhause haben“ unterscheiden. In den untenstehenden Gesprächen geht es um letzteres: Wer hat überhaupt ein Zuhause? Und vor allem: Wer hat keines? Was passiert, wenn man ohne Zuhause dasteht? Weil man beispielsweise aus der Wohnung geflogen ist. Oder weil man Gewalt und Krieg entkommen wollte und dafür sogar das Land verlassen musste. Frank Richter und Samar Joukhadar haben solche Erfahrungen gemacht. Er war zehn Jahre obdachlos und hat auf der Straße gelebt. Sie ist mit ihren vier Kindern aus Syrien geflüchtet. Heute haben beide wieder eine eigene Wohnung. Aber ist die auch ein Zuhause?
Kathrin Wildner: Ganz spontan, wenn du das Wort Zuhause hörst, was fällt dir ein?
Samar Joukhadar: Mein Bett. Das ist das erste, was mir einfällt. Aber wenn ich darüber nachdenke, weiß ich nicht mehr, was Zuhause ist. Ist Deutschland mein Zuhause? Manchmal habe ich etwas wie Heimweh.
Was verbindest du mit Zuhause?
Manchmal dachte ich, hier in Deutschland ist mein Zuhause. Aber dann wieder bin ich wie verloren, ich kann weder dort sein noch hier. Ich habe ein schweres Gefühl. Nach sieben Jahren ist das ein neues Gefühl. Als ich nach Deutschland gekommen bin, hatte ich viel Hoffnung. Aber jetzt ist das vorbei …
Hast du gehofft ein Zuhause zu finden?
Was bedeutet das? Ein Zuhause finden? Kann man ein Zuhause suchen? Aber das ist schwierig, denn mein Gefühl ist nicht stabil. Dafür gibt es viele Gründe, es ist nicht klar, was in der Zukunft passiert. Ich kann nicht nach Syrien zurück, denn ich habe ein Problem mit dem Assad-Regime. Und hier bin ich keine Deutsche, ich bin Ausländer, ich bin ein Fremdmensch. Auf der Straße treffe ich oft auf Nazi-Menschen. Dann verliere ich noch mehr das Gefühl von Zuhausesein. Ich kann nicht antworten, ich kann mich nicht wehren, ich kann nicht für mich kämpfen. Wenn du dich zuhause fühlst, bedeutet das, du hast ein stabiles Gefühl, du hast Rechte wie andere, du kannst die Sprache, kannst erklären, was mit dir passiert.
Wäre das ein Gefühl von Sicherheit: zuhause sein? Was ist das für ein Gefühl?
Zuhause ist da, wo du stabil bist, in Sicherheit, ein Gefühl von Menschlichkeit. Du hast die gleichen Rechte wie andere Menschen. Das ist sehr sehr wichtig für mich. In Syrien, durch die Diktatur, fehlt mir das Gefühl für Heimat.
Hat das Zuhause einen Platz oder einen Ort?
Für mich ist, wie ein syrischer Autor sagt, die Heimat nicht ein Stück Erde, sondern dort, wo meine Kinder gut leben können, wo es eine Zukunft gibt.
Beim letzten Mal hast du von einigen Momenten erzählst, in denen du dich zuhause fühlst.
Ja, manchmal gibt es diese Gefühle; manchmal, wenn ich durch die Stadt fahre. Da gibt es eine Ecke … wenn ich an der Ecke an der Danziger Strasse vorbeikomme, erinnere ich mich an meine Heimat. Oder wenn ich in das McDonald’s in Pankow gehe. Aber das ist auch traurig. Ich weiß nicht, ob ich wieder zurückgehe nach Syrien. Meine Kinder haben nicht das Gefühl, dass Syrien ihre Heimat ist. Ich glaube, hier ist ihr Zuhause.
Aber es gibt auch andere kleine Momente: Ich mag es, am Morgen früh aufzustehen. Wenn alle anderen noch schlafen, sitze ich auf dem Sofa in einer sauberen Wohnung, trinke einen Capucchino. Das ist ein Gefühl, ein Moment von Zuhause. Aber oft ist meine Wohnung ganz durcheinander.
Wenn wir über das Zuhause reden, sprichst du einmal von Heimat, von Syrien, das nicht mehr dein Zuhause ist. Aber dann sprichst du auch ganz konkret von deiner Wohnung. Ist die für dich ein Zuhause?
Ja. Aber wir haben hier auch ein Problem: die arabische Mentalität. Als arabische Menschen brauchen wir eine große Küche, wir haben viel Besuch, viele Kinder, viel Familie. Aber jetzt nehmen wir eine Wohnung, wie es sie gibt, nicht, wie wir sie wollen. Die Wohnung in Pankow: Pankow mag ich, aber die Wohnung habe ich gehasst. Sie war gut, wenn ich sie vergleiche mit einem Heim. Ja, klar, ist sie viel besser, aber nicht, wie ich sie mir wünsche.
Wie sähe deine Wohnung, dein Zuhause aus?
Ich möchte eine große Küche, einen Balkon, auch viel Platz. Ich suche immer eine noch größere Wohnung, auch wegen meiner kleinen Tochter. Aieh ist sehr krank, sie hat Down-Syndrom, das Jugendamt unterstützt mich. Aber jetzt möchte ich hier bleiben. Ich fühle mich jetzt in dieser Wohnung sehr wohl, nur Aieh hat keinen Platz. Aber wenn ich an früher denke, fühle ich mich jetzt im Paradies.
Aber wenn du dir was wünschen dürftest?
Ich habe jetzt keine Wünsche, nur Gesundheit, Sicherheit und stabil sein. Ich glaube, das Zuhause-Gefühl bekommt der Mensch, wenn er älter ist. Er probiert alles, und dann wird er sicherer sein.
Vielleicht ändert sich die Idee von einem Zuhause?
Ja, ich kenne das Gefühl. Wenn ich von einer Reise nach Berlin zurückkomme, wenn ich im Zug nach Spandau komme, fühle ich mich zuhause. Die Luft in Berlin ist anders, ich bin zuhause. So war das auch in Damaskus. Damaskus ist schmutzig, die Luft ist nicht gesund, aber immer, wenn ich zurück in die Stadt komme, fühle ich mich zuhause, ich atme ein …
Was macht dieses Gefühl aus?
Das ist das Gewohnte. Ich kenne die Straßen, ich kenne viele Situationen.
Also das Vertrautsein, das Wiedererkennen, das Gewohnte, nicht das Neue oder das Abenteuer?
Das Abenteuer hat mit Zuhause nichts zu tun. Das wichtigste Gefühl von Zuhause ist das Gewohnte, die Routine. Zuhause ist, wo du sein kannst, wie du bist, ohne Schminke, ohne Lügen. Du kannst machen, was du willst: weinen, lachen, tanzen, vielleicht nackt sein. Du kannst machen, was du willst, und niemand beobachtet oder überwacht dich.
Bedeutet Zuhause alleine sein?
Nein, das muss nicht alleine sein. Ich kann so sein mit meinen Kindern und meinem Mann. Und so ist das auch im Großen, mit dem Land, da, wo du zuhause bist und machen kannst, was du willst: Du kennst die Regeln. Mit mehr Erfahrungen, und wenn ich die Sprache richtig spreche, wenn ich meine Rechte verstehe – das ist vielleicht die Zukunft, wenn es hier ein Zuhause wird. Aber jetzt brauche ich erstmal Zeit.
Samar Joukhadar floh mit ihren vier Kindern Ende 2013 vor dem Krieg. Erst innerhalb Syriens, dann in den Jemen. Als dort der Bürgerkrieg begann, reiste sie über die Türkei, Mazedonien und Budapest bis nach Deutschland, das sie im September 2015 erreichte. Auch hier gab es eine Reihe von Stationen in verschiedenen Unterkünften. jetzt lebt sie mit ihrer Familie in einer eigenen Wohnung im Stadtteil Lichtenberg.
Sabrina Dittus: Spontan, was fällt dir zuallererst ein, wenn du an „zuhause“ denkst?
Frank Richter: Ankommen. An dem Ort ankommen. Weil, wenn es mir nicht gefällt – das meine ich mit Ankommen -, dann fühle ich mich auch nicht zuhause. Der Ort muss ja mir gefallen, keinem anderen. Das muss jetzt nicht unbedingt der Ort sein, wo ich wohne; muss nicht sein. Kann auch da sein. Oder Urlaub. Kann ich jetzt nicht sagen, war ich 30 Jahre nicht mehr. Ich kann auch bei Bekannten zeitweise zuhause sein.
Was verbindest du mit Zuhause?
Ruhe. So zu sein, wie ich möchte. Mich nicht anders geben müssen. Ja, das war es eigentlich schon.
Du hast 10 Jahre auf der Strasse gelebt. War die Strasse zeitweilig auch ein Zuhause?
Die war zeitweilig auch ein Zuhause. Ich hatte ja immer den selben Ort zum Schlafen genutzt. Es sei denn, ich hatte mal ’nen Bekannten oder irgendjemanden kennengelernt, wo ich mal übernachten konnte. Ansonsten war ich immer an der selben Stelle zum Schlafen, quasi schon eingerichtet. Ich hab‘ zwar nichts mehr zurückgelassen, wenn ich tagsüber unterwegs war, aber ich habe immer meinen festen Platz für alles gehabt. Wo ich dann später ausgepackt habe, wo mein Rucksack hinkommt, wo meine Isomatte hinkommt, die Reihenfolge von den Decken, und wo ich halt, wenn ich mal Essen dabei hatte, Essen gemacht habe. Also kalt essen. Ich hab‘ da nicht gekocht draussen, wie manche. Die haben Kocher dabei und alles. Ich hatte immer nur das Nötigste dabei, so dass ich immer alles wieder mitnehmen konnte, nix zurücklassen musste.
Das Gefühl von Zuhause, das hat was mit den Menschen zu tun gehabt. Weil, wenn man früh von so ’nem Schubschiff angehupt wird, einem zugewunken wird, da ist man irgendwie bekannt und zuhause. Alle, die da regelmäßig vorbeifahren, kannten mich. Die haben immer alle gegrüßt, und ich habe sie gegrüßt, wenn ich da war, an dem Ort, wo ich geschlafen habe.
Jetzt hast Du seit zwei Jahren eine Wohnung – ist Deine Wohnung ein Zuhause?
Sie ist leerer geworden, sie muss wieder ein Zuhause werden. Ich habe ja zwei Hunde gehabt, und die sind beide jetzt verstorben. Ich musste beide einschläfern lassen, innerhalb von drei Monaten. Jetzt ist keiner da, der auf einen wartet, obwohl ich immer noch mit den Hunden rede. Ich habe auch noch nichts weggeräumt von ihnen. Steht immer noch alles da. Also das Hundefutter nicht, das ist natürlich weg. Aber die Hundehütte, die ich für sie gebaut habe. Steht alles noch in der Wohnung. Mal gucken, wann ich das wegräume.
Heisst das, mit dem Verlust der Hunde ist die Wohnung weniger Zuhause geworden?
Ja. So ein richtiger Grund ist nicht mehr da, nach Hause zu gehen. Also, ich hatte ’nen festen Zeitablauf. Fing damit an, wann ich mit den Hunden raus musste. Dann das Ganze, was dann in der Wohnung so für die Hunde passiert, für mich passiert ist und so weiter. Das kann ich halt jetzt über den ganzen Abend strecken. Das hat mir auch ein bisschen den Elan genommen, muss ich sagen. Im Nachhinein betrachtet. Anfangs dachte ich nicht so, aber … Hat auch manchmal den Gedanken geschürt, eigentlich könntest Du Dir noch mehr Ruhe besorgen und wieder rausgehen. So betrachtet, ist die Wohnung jetzt eher eine Unterkunft. Kein Zuhause. Momentan.
Vorher, mit den Hunden, war es mein Zuhause – mit meiner kleinen Familie. 13 Jahre hatte ich die Hunde. Das war ja auch mit ein Grund, den Weg wieder zurückzugehen, also von der Strasse wieder ins bürgerliche Leben, wie ich es immer so schön nenne. Gut, also ich selbstverständlich auch. Gewisses Alter, die Hunde hatten ein gewisses Alter, wird nicht besser. Jetzt muss ich halt gucken, wie ich mich sinnvoll beschäftigen kann.
Wenn Du Dir jetzt ein Zuhause wünschen könntest: Wo wäre es, wie sähe es aus, und wer würde dort mit Dir leben?
Jetzt kommt ein bisschen das Gegenteil: Also, wenn ich einen Wunsch frei hätte und das auch möglich wäre, dann wäre es entweder in Norwegen oder Finnland, im Wald, der nächste Nachbar am besten 100 Kilometer entfernt, und alle Tiere, die da rumrennen. Und es wäre wahrscheinlich ein Tipi, allerdings aus Holz gebaut, so ein Indianerzelt, ein bisschen größer. Ein bisschen Komfort ist man ja gewohnt. So was würde ich mir schon antun. Ich hatte auch schonmal so ein Haus geplant. Also kopftechnisch habe ich da schon viel gemacht, also mit Zeichnen und so weiter. Wenn ich mal Geld habe; so Pläne, die ja nicht passieren.
Das Wichtige am Zuhause ist das richtige Gefühl. Wie gesagt: Es muss nicht schön aussehen bei mir, es muss auch nicht alles geben, was man heutzutage kaufen kann. Dieses Gefühl, ein Zuhause zu haben, ist nicht das, was manche Leute für ein Zuhause halten. Ich habe da ein ganz anderes. Ich hatte ja nunmal 10 Jahre gar keins, bei mir ist halt das Gefühl wichtig. Wie gesagt: Mir geht es nicht um Sachen, die drinstehen. Es müssen nicht unbedingt ständig Leute da sein, sondern ich muss mich drin wohlfühlen. Das kann man nicht ersetzen. Ich habe ja schon manchmal so Einrichtungssendungen geguckt. Da würde ich am liebsten wegrennen, wenn die von Zuhause reden.
Frank Richter, 58, hat zehn Jahre in Berlin auf der Strasse gelebt. Seit 2017 hat er wieder eine eigene Wohnung. Seit 2018 arbeitet er als Sozialbetreuer bei Housing First, erst ehrenamtlich (sechs Monate), dann festangestellt.