Gemeine Stadt.

Versammlung

Versammlungen gestalten?

Sandy Kaltenborn, Kathrin Wildner

Kathrin Wildner: Was verstehst du unter Versammlung?

Sandy Kaltenborn: Unsere Idee war, dass wir hier über den Zusammenhang von Versammlung, Ermächtigung und Protest sprechen. Das Versammeln ist erst mal eine räumliche, soziale und sinnliche Erfahrung, in der Schnittmenge zu dem politischen Projekt, das man stark machen möchte. Im Wesentlichen ist Versammlung eine körperlich-räumliche Erfahrung eines kollektiven Begehrens.

Eine körperlich-räumliche Erfahrung? Was ist dann die Rolle des Kommunikationsdesigners in diesem Gefüge der Versammlung?

Der aktuelle Wandel im Berufsbild des Kommunikationsdesigners ist, dass es nicht mehr nur ausschließlich um das Gestalten von Medien oder anderen Artefakten geht. Das, was Design heute sein kann, löst sich zunehmend von den Artefakten und führt hin zu Prozessen und Strategien in Räumen und dem, wenn man so will, sozialen Gewebe. Die Mitteilungen, die Gestaltung, das Design oder die Formgebung sind hier dann meistens flankierend und unterstützend. Oder sie können additive Bezugspunkte bilden. Sie sind aber nicht mehr der Kern der Gestaltung im engeren Sinne. Auch Leute, die ein Café betreiben, wie das, in dem wir gerade sitzen, sind Gestalter*innen. Das ist etwas, das wir Studierenden heute mitgeben: dass Gestalten auch Taxifahren sein kann oder eine Soundcollage oder ein Mittagessen. Dies alles ist das Feld von Gestaltenden und somit auch von Kommunikationsdesigner*innen. Wir lösen uns aktuell also von alten Berufsbildern und den damit verknüpften Designvorstellungen. Welche Rolle Kommunikationsdesigner*innen dann konkret einnehmen, ist natürlich sehr unterschiedlich und potentiell breit gefächert.

Konzentrieren wir uns hier nochmal auf das Visuelle und auf die körperlich-räumliche Dimension. Du hast von Bezugspunkten und Mitteilungen gesprochen. Was bedeutet das? Sind das Formate? Oder doch Artefakte?

Genau, das sind kulturelle Artefakte oder Medien, über die sich Gesellschaft im Großen und im Kleinen herstellt beziehungsweise reproduziert. Du arbeitest ja für einen Verlag, das ist kulturelle Produktion. Bücher bilden hier sehr plakativ die Schnittstelle zwischen dem Individuum und dem Diskurskollektiv und somit den gesellschaftlichen Debatten im Allgemeinen. Das ist ihre gesellschaftliche Funktion.

Beschreibe diese Artefakte und Schnittstellen doch aus der Perspektive der Kommunikations- oder Graphikdesigner*in.

Ich würde mal Vincent Perrottet zitieren. Er sagt sinngemäß etwa: Es gibt soziale Bilder, die machen Lust auf Nahbarkeit und Diskussion. Und es gibt unsoziale Bilder, die haben etwas Trennendes. Als grobe Folie heißt das: Bilder, die im warenförmigen, kommerziellen Raum operieren, sind eher unsoziale Bilder. Und soziale Bilder sind diejenigen, die Lust auf Zusammenkunft, Solidarität und Austausch machen. Er fügt dann noch an, dass diese Bilder auch immer die Frage stellen, wo ich im Verhältnis zu ihnen stehe und was meine Position in der Gesellschaft ist. Um mal ein konkretes Beispiel aus meiner Arbeit am Kotti zu nehmen: Du musst dich nicht mit dem „I love Kotti“ identifizieren, aber in dem Moment, in dem du es betrachtest, musst du dich direkt oder indirekt dazu ins Verhältnis setzen.

Und das ist Kommunikation?

Ja natürlich. Das gerade Beschriebene ist ein Beispiel für eine Kommunikationsstrategie unserer Initiative. Aber es gibt im politischen Bereich auch vieles, das einer Marketinglogik folgt, einem beschränkten Verständnis von Kommunikation. Hier wird dann nur gesendet und dort wird empfangen, anstatt Kommunikation als einen dialogischen Prozess zu begreifen, mit allen Bruchstücken, Irritationen und Fehlinterpretationen. Das lateinische Wort communicare heißt ja soviel wie gemeinsam machen oder teilen. Und wenn wir jetzt über Kommunikation sprechen: Diese hat auch immer etwas Prekäres. Das, was ich sage, ist nicht unbedingt das Gleiche, was du hörst, beziehungsweise dann verstehst. So ist es auch mit den Bildern, die ich in die Welt setze. Ich habe nicht die Vorstellung, dass alle Menschen sie so lesen und verstehen, wie ich sie verstehe. Aber ich habe gegebenenfalls eine Ahnung, welche Bilder, Ästhetiken und Formsprachen nahbarer, offener, zugänglicher sind. Oder welche die richtigen Fragen stellen. Das ist aber gar nicht so einfach. Das macht eben unsere Arbeit als Gestalter*innen aus.

Du sprichst von Nahbarkeit, Marktlogik, dem prozesshaften Dialog, die Bilder offen zu halten, trotz ihrer Prekarität. Ist das die Arbeit? Können wir das am Beispiel der Kotti-Postkarte beschreiben?

Foto: Sandy Kaltenborn

Diese Postkarte ist ja erst mal etwas recht Banales, und dennoch beschreibt sie potentiell eine Komplexität. Sie hat das klassische Layoutraster einer Touristenpostkarte, setzt dort aber Bilder von einem „gefährlichen Ort“, einem „Problemort“, nämlich dem Kottbusser Tor, ein. In einer gefälligen Typo steht da „Grüße vom Kottbusser Tor“ – auch noch auf einem pinken Hintergrund und mit Verlauf. Also etwas kitschig. Zuerst gab es kurz die Irritation: „Ach, vom Kottbusser Tor gibt es jetzt auch Touristenpostkarten?“. Aber dann durchschaut man es, und doch bleibt der Charme erhalten, ein liebevoller Gestus. Das finden auch Leute witzig, die den Kotti tatsächlich eher als „Problemort“ lesen. Überhaupt: Postkarten zu produzieren, in einer Zeit, in der kaum noch Postkarten geschrieben werden, ist ja auch ein bisschen anachronistisch. Das macht einen Raum auf, schafft eine Sichtbarkeit. Und unsere Postkarte ist umsonst, Touristenpostkarten kosten 80 Cent bis 2 Euro. Wir haben davon Zehntausende gedruckt. Hier ist die Distribution auch von Bedeutung. Und diese gehört meinem Verständnis nach auch zum Arbeitsfeld von Kommunikationsdesigner*innen.

Wo habt ihr die Postkarten denn verteilt?

Wir haben sie unter anderem auf unseren Demonstrationen verteilt. Ich weiß nicht, wie viele davon wirklich verschickt worden sind, aber man findet sie in vielen Wohnungen, WGs, hier und dort. Eine andere Frage, die sich im Zusammenhang mit der Distribution stellt, ist: „Zu wem spricht diese Postkarte?“ Sie kommuniziert nach außen – und nach innen. Jede Mitteilung hat immer auch eine Binnenkommunikation. Das denken viele Leute nicht mit. Als Anwohner*in tut man so, als wolle man die Postkarte an Dritte verteilen, aber eigentlich verteilt man sie auch an sich selbst. Und sagt sich, dass das Kottbusser Tor ein lebenswerter und liebenswerter Ort ist.

Wenn man das dann noch einmal im Zusammenhang mit Versammlung denkt, hat Versammlung auch etwas mit einem sich nach innen Vergewissern zu tun.

Ja genau. Und dieses Vergewissern ist das, was ich mit Bezugspunkten meine.

Dann haben wir ja noch andere Artefakte, wie zum Beispiel den „I love Kotti“-Aufkleber.

Die Grundfrage ganz am Anfang unseres Protestes war: Wie kann man eigentlich etwas in und für so einen superdiversen Ort gestalten? Wie kann etwas niedrigschwellig sein, ohne platt zu werden? Und wie kann man etwas in die Welt setzen, ohne ästhetische Distinktion. Das geht natürlich nicht. Jede Mitteilung, jede Ästhetik wird vor einem Hintergrund gelesen, schafft Ein- und Ausschlüsse. Das „I love Kotti“ habe ich ja nicht erfunden. Das ist bekanntermaßen eine Adaption von Milton Glasers „I love New York“. Das ist tendenziell ein warenförmiges, kommodifiziertes Stadtmarketing von einem Graphikdesigner, und gleichzeitig gehört es allen. Man hat es sich weltweit angeeignet, es ist durch seine Simplizität in die globale Zirkulation gegangen. Einfacher kann man eine Zuneigung nicht ausdrücken, also: Ich, Herz und dann kommt was. Das ist eine geniale Erfindung, die alle möglichen Perspektiven in eine Message integriert.

Dient das als Strategie, als ein Aufruf zur Versammlung?

Erst mal dient es als Einladung zur Bezugnahme. Bei unserem Aufkleber ist die Kommunikationsstrategie ähnlich angelegt wie bei der Postkarte: Den Anlass der Versammlung, den Protest, das strukturelle Problem mit den steigenden Mieten kommunizieren wir erst auf der zweiten Ebene. Die erste Ebene ist erst mal der Aufkleber „I love Kotti“, und dann musst du näher ran. Und dann liest du die kleinere Unterzeile – auf der Postkarte steht sie auf der Rückseite: „Steigende Mieten am Kottbusser Tor stoppen.“ Und das Näherrangehen an das Kleingedruckte macht etwas mit dir, mit deinem Rezeptionsprozess. Auch wenn du es im nächsten Moment wieder vergessen hast, bist du in eine Interaktion mit der Mitteilung gegangen. Kommunikationsdesign eben. Wir müssen also auch nicht sofort einer Meinung sein, aber wenn du die Postkarte oder den Aufkleber irgendwie sweet findest und auch ein Problem mit steigenden Mieten am Kotti oder darüber hinaus hast, dann komm doch zu unserer Versammlung. Es ist also auch eine Einladung.

Mit „I love Kotti“ rückt ja das Individuum in den Vordergrund.

Ja, stimmt. Und dann haben wir auf der nächsten Ebene natürlich wieder die Frage vom Verhältnis zwischen Individuum und Kollektiv. Hier also „I love Kotti“, das jede*r auf die Jacke und somit auf den eigenen Körper kleben konnte – auf mitunter sehr unterschiedliche Körper, in denen sehr unterschiedliche Geschichten und Biographien wohnen. Und bei den Versammlungen stehen dann alle so da mit den Aufklebern an ihren Körpern, da steht dann „Ich, Ich, Ich, …“. Stell dir vor, es gibt eine große Versammlung und jede*r hat auf dem T-Shirt oder Sweatshirt draufstehen “Ich“, – jede*r ist es wert, gesehen zu werden, jede*r braucht eine Aufmerksamkeit. Der Kotti-Aufkleber hat etwas vereinheitlicht, zusammengebracht, aber die Körper bleiben in ihrer Diversität sie selbst. Das Pendant dazu ist dann das “Wir“, welches temporär im Kontext der Versammlung entsteht. Um dieses zu unterstreichen, gab es dann das große Transparent mit „We Love Kotti“ drauf. Das gibt es nur als Transparent, nicht als Aufkleber: Der ist und bleibt bei der individuellen Bezugnahme.

Foto: Christian Ditsch

Ein Transparent ist ja auch ein zentrales Element der Versammlung. Wie entsteht so ein Transparent?

Ja, gute Frage. Wie entstanden unsere Transparente in so einem doch sehr diversen Protest? Divers heißt hier: eine Gruppe von Leuten mit ganz unterschiedlichen Hintergründen, aber einem relativ starken Gewicht der Perspektive der Migration und Gastarbeiter*innen-Migration. Eine der häufigsten Sätze der Anwohner*innen am Kottbusser Tor war: „Wir haben Kreuzberg zu dem gemacht, was es heute ist. Jetzt werden wir verdrängt, jetzt wollen sie uns hier nicht mehr.“ Dementsprechend kam dann auf das Leitransparent unserer ersten Demonstration: „Wir sind Kreuzberg, wir bleiben!“ Auf Türkisch und dann als zweites auf Deutsch. Und dann natürlich auch: „Gegen steigende Mieten und Verdrängung am Kotti.“ Und es war wichtig, dass auf diesem Transparent das Gebäude gezeigt wird, in dem auch die Frauen wohnen, die das gesagt haben, die hier zum Teil direkt hinter dem Transparent laufen. „We love Kotti“. Im besten Fall erwachsen solche Mitteilungen organisch aus einem kollektiven Prozess, den dann Gestalter*innen nur noch in eine Form bringen müssen.

Es gibt noch ein weiteres Element nach dem „I love Kotti“-Aufkleber und dem Transparent: einen Klassiker, den Flyer, einen Aufruf zur Demo. Wie würdest du den beschreiben?

Wir haben ja ab Anfang 2012 vierzig, fünfzig Demonstrationen hintereinander gemacht. Fast jede Woche gab es einen neuen Flyer dazu. Immer in DIN A 4 und auf der Vorderseite ein Bildmotiv mit dem Datum, dem Aufruf, einem Slogan und dem Link zur Webseite; auf der Rückseite waren dann weitere Infos und vor allem Fotos. Die Formgebung entsprach nicht einem präzisen, ausgefeilten Graphikdesign, es war eine ganz einfache Bildsprache, niedrigschwellig, farbenfroh. Es hätte auch 15 andere Möglichkeiten gegeben, das zu gestalten.

Wie sahst du deine Rolle als Gestalter dabei?

Das war für mich anfangs relativ schwierig und irritierend. Welche Formgebung, welche Ästhetik funktioniert für möglichst Viele? Der große Vorteil, den ich als Gestalter hier hatte, war, dass ich nicht alles anhand eines Produktes durchdeklinieren musste. Ich hatte die Möglichkeit, über 10 Jahre eine Art konstanten Strom zu erzeugen und dabei unterschiedliche Ansätze zu erproben. Das sind dann auch alles erst mal nur Entwürfe, wenngleich sie gedruckt sein mögen. Daher ist es mir auch wichtig, die ganzen Produkte, Mitteilungen und Medien in ihrem Zusammenhang auf unterschiedlichen Ebenen und in unterschiedlichen Funktionen zu lesen. Einige sind bildpolitisch bedeutsamer als andere.

Kannst du das an dem Flyer zeigen?

Ja, das lässt sich gut zeigen: Die gerade beschriebene Vorderseite dieser Demoflyer stellte sich schnell als relativ unbedeutsam heraus. Da wir jeden Samstag um 16 Uhr am Gecekondu am Kotti demonstrierten und das Thema gleichblieb, war die Information zu Zeit und Ort den meisten schon bekannt. Die Rückseiten wurden dafür aber immer bedeutsamer: Ich hatte irgendwann angefangen, die Fotos der Demo der letzten Woche auf die Rückseite zu packen. Und immer wenn die Flyer dann am Gecekondu angekommen waren, haben sich die Leute draufgestürzt. Sie haben aber nicht geschaut, was auf der Vorderseite steht, sondern haben geguckt: „Bin ich auf dem Foto drauf oder mein Onkel oder meine Schwester?“

Funktioniert wie eine Zeitung …

Ja, eine Zeitung, „in der ich vorkomme“. Und das – das darf man nicht vergessen – passiert in einer Nachbarschaft, die im hohen Maße marginalisiert, unterrepräsentiert, unsichtbar ist. Zeitung ist ein richtiges Stichwort hier. Durch die Auflage, die Quantität bekommt es eine andere Wertigkeit als ein singuläres Foto. Da geht es um das Medium, die Reproduktion und die Distribution und weniger um die Formgebung. Später wurde das dann immer mehr mit den Fotos. Da gab es dann eine richtige Fototapete. Ich bin darauf gekommen, weil ich viel am Gecekondu verweilt habe, dort Tee getrunken habe. Ich habe gesehen, wie die Flyer genutzt und gelesen wurden, dann habe ich das intensiviert. Deshalb muss man Artefakte auch immer in Beziehung mit ihrem Kontext der Distribution rezipieren. Das Politische an einem Plakat kann man erst sehen, wenn man auch den Produktions- und Distributionskontext kennt. Und das ist wiederum superinteressant, weil man sich dann auch von den eigenen ästhetischen Empfindungen und Geschmäckern lösen muss. Ob man das überhaupt kann, ist für mich weiterhin eine sehr zentrale Frage. Und deswegen arbeiten wir als Gestalter*innen ja auch immer nur an einem Entwurf. Von der Welt, wenn man so will …

Foto: Sandy Kaltenborn