In Städten wie Berlin wird nach Möglichkeiten und Grenzen des gemeinsamen Gestaltens der öffentlichen Räume, des kollektiven Konsums, der gesellschaftlichen und ökologischen Ressourcen gefragt: Wie lässt sich Stadt in ihrer Pluralität, Diversität und Dynamik als gemeinsamer Raum verstehen und gestalten? Wie können für alle Bewohner:innen gleiche Rechte auf Teilhabe hergestellt werden? „Ist mit dem realen Kommunismus alles, was gemein ist, verlorengegangen?
Auf dieses „gemein“ muss man zurückkommen: „gemein“ in dem Sinne, was uns allen gleich ist, was wir alle teilen, was banal ist. Aber auch, was uns gemeinsam ist, was wir zusammen haben. Und was heißt eigentlich heute gemeinsam sein?“ (Jean-Luc Nancy im Gespräch mit Sabrina Dittus)
Gemeinsam mit Akteur:innen aus Berlin, die fundamentale stadtgesellschaftliche Transformationen mit Blick auf neue Formen eines Miteinanders und einer allgemeinen Daseinsfürsorge erproben, wollen wir solche Fragen öffentlich ausloten. Wir gehen ihnen in einer Veranstaltungsreihe und der daraus resultierenden digitalen Publikation unter den Schlagworten Straße, Versammlung, Eigentum, Umweltgerechtigkeit, Kollektive, Daseinsfürsorge, »Home« / Zuhause und Unruhe/n nach.
Ob öffentlicher Ort, Asphaltwüste oder Verkehrsfläche – eine zurzeit besonders heiß umkämpfte gesellschaftliche Ressource ist die Straße. Historisch war sie immer auch Schauplatz sozialer und politischer Versammlungen. Sie ist einerseits hoch reglementiert, andererseits Lokalität permanenter Aushandlungen und Aneignungen, geprägt von Nähe und Distanz, Fremdheit und Anonymität, Bewegung und Begegnung, Diversität und Banalität.
Die Straße ist so nicht nur ein zentrales kommunales Gut, sondern auch das gebräuchlichste Terrain des stadtgesellschaftlichen Miteinanderseins. Was ist also das Potenzial der Straße für eine als „gemein“ verstandene Stadt? Wie müsste sie gestaltet werden, damit sie als eine allgemein geteilte Bühne des Alltags, aber auch als politischer Raum einer demokratischen Öffentlichkeit fungieren kann?
Versammlungen im öffentlichen Raum, auf denen die gesellschaftliche Gestaltung der Stadt öffentlich debattiert wird, stellen ein Kernelement der urbanen Demokratie dar. Von der Agora der antiken Polis über die Barrikaden und Clubs der revolutionären Pariser Kommune vor 150 Jahren bis hin zum Human Microphone der weltweiten Occupy-Bewegung oder dem Refugee Camp auf dem Kreuzberger Oranienplatz haben öffentliche Versammlungen immer wieder zentrale Fragen des Städtischen basisdemokratisch verhandelt.
Was sind die Voraussetzungen für solche Zusammenkünfte, welche Orte, Regeln und Wirkungen haben sie? Wer ist dort sichtbar und hörbar, wer eher nicht, und wie werden Entscheidungen getroffen? Und unter welchen Bedingungen und in welchen Formen entwickeln sich Versammlungen im öffentlichen Raum schließlich zu politischen Akten, die die Stadt verändern?
Nicht zuletzt der permanente Anstieg der Mieten gefährdet im heutigen Berlin die Existenz von immer mehr Menschen. In Reaktion darauf begannen Mieterbewegung, gemeinwohlorientierte Institutionen und kritische Intellektuelle Modelle zu erarbeiten, um Immobilien und städtischen Boden der Spekulation zu entziehen.
Der Eigentumsbegriff der Neuzeit schließt das Recht auf dessen Aufhebung mit ein. Die Perspektiven der Umverteilung oder der gemeinsamen Nutzung erscheinen dabei jedoch unzureichend, wenn nicht die Fragen des Erhalts, der Fürsorge und Pflege mit einbezogen werden.
Was machen die gegenwärtigen Eigentumsverhältnisse mit der Stadtgesellschaft und welche anderen Verfügungsmöglichkeiten – wie etwa Genossenschaften – existieren oder wären denkbar? Was könnte sich verändern, wenn im Alltag unverzichtbare Infrastrukturen wie die Wohnraumversorgung aber auch das Gesundheitswesen als öffentliche oder gemeine Güter verstanden und vergesellschaftet werden?
Die Aussage „Not ist hierarchisch, Smog ist demokratisch“, die der Soziologe Ulrich Beck in seinem berühmten Buch Risikogesellschaft 1986 getroffen hat, ist längst widerlegt.
Urbanist:innen wie Mike Davis haben im Gegenteil gezeigt, dass Umweltbelastungen in städtischen Räumen sozial äußerst ungleich verteilt sind. Der Klimawandel wird solche Belastungen noch massiv verschärfen.
Welche Orte und Gruppen in Berlin sind den steigenden Gefahren besonders stark ausgesetzt, wer kann sich am wenigsten davor schützen? Welche politischen Weichenstellungen wären erforderlich, um Umweltgerechtigkeit für alle in der Stadt Lebenden zu gewährleisten? Wer dominiert relevante Entscheidungsprozesse, welche Minderheiten sind aus ihnen ausgeschlossen? Welche Initiativen kämpfen mit welchen Forderungen für Umweltgerechtigkeit? Und wo sind die Blockaden dagegen zu verorten?
Kollektive verstehen wir in der Reihe „Gemeine Stadt“ als freiwillige soziale Zusammenschlüsse, deren Mitglieder sich gleichberechtigt organisieren, um selbstbestimmte politische, soziale, kulturelle oder ökonomische Ziele gemeinschaftlich zu verfolgen. Historisch wie auch gegenwärtig spielen solche Kollektive eine wichtige Rolle bei der Frage danach, wie urbane Gesellschaften von Bewohner:innen gemeinsam gestaltet werden können.
Schon im 19. Jahrhundert entstanden aus der Arbeiterbewegung heraus Genossenschaften und Kooperativen etwa zur Versorgung mit Wohnraum oder Lebensmitteln nach Grundsätzen der Selbstermächtigung, Selbsthilfe und Gemeinnützigkeit. Aus den Neuen Sozialen Bewegungen heraus gründeten sich in den späten 1970er Jahren selbstverwaltete Betriebe, die sich als solidarische Ökonomien verstanden und sich kapitalistischen Profitlogiken verweigerten. Bis heute existieren kollektive Organisierungsformen auch in der (Erwachsenen-)Bildung oder der kulturellen und künstlerischen Praxis. In jüngster Zeit findet die Kollektividee wieder eine rege Nachfrage, die vielfältige Neugründungen und Weiterentwicklungen generiert.
Im Sinne der Bereitstellung aller Infrastrukturen und Güter, die für ein würdiges menschliches Leben existenzielle Bedeutung aufweisen, ist die allgemeine Daseinsvorsorge eine zentrale Aufgabe des modernen Staates einschließlich der Kommunen. Historisch wurde diese Aufgabe, bezogen auf unterschiedliche Bevölkerungen und auf die Definition dessen, was als existenziell galt, äußerst selektiv und paternalistisch wahrgenommen. Der Neoliberalismus bewirkte schließlich einen staatlichen Rückzug aus vielen Aufgaben der Daseinsvorsorge und deren Privatisierung.
Laut dem Foundational Economy Collective, das die „Ökonomie des Alltagslebens“ erforscht, handelt es sich bei der Daseinsvorsorge um den „alltäglichen Kommunismus, der unserem alltäglichen Kapitalismus unterliegt und ihn erst ermöglicht“. Denn der Kapitalismus gründet auf existenziellen Infrastrukturen, die ihm nicht nur der Staat, sondern wir alle zur Verfügung stellen.
Der von uns gewählte Begriff der Daseinsfürsorge weitet das klassische Verständnis öffentlicher Aufgaben aus: auf Aspekte sozialer Fürsorge und eines Sich-Kümmerns um Andere; auf ein intersektionales Konzept der Gerechtigkeit, das Mehrfachdiskriminierungen aufgrund von race, Geschlecht, Klasse, sexueller Orientierung, Gesundheit oder Alter bekämpft; auf die Verantwortungsübernahme für postkoloniale globale Verhältnisse. Anderthalb Jahrhunderte nach dem Ende der Pariser Kommune diskutieren wir, wie und ob deren Forderung nach einem „Luxus für alle“ in die Gegenwart übersetzt und auf die globale urbane Welt ausgedehnt werden könnte.
Die Pandemie mitsamt der massiven Verlagerung von Arbeitsplätzen (home office) und Klassenzimmern (home schooling) ins Zuhause veränderte für viele Menschen den Alltag und möglicherweise das Zuhause selbst. Einerseits kam es zu einer Reaktivierung traditioneller Geschlechterrollen, anderseits geschah ein weiterer Schritt in Richtung einer „Neuordnung des Privaten“ (Sarah Speck). Was ist für wen an dieser Entwicklung neu? Wie vollzog sie sich jenseits der heterosexuellen Kleinfamilie?
Wie Feministinnen seit langem betonen, ist das Zuhause, der vermeintlich private Zufluchtsort, ja immer auch ein Raum der Reproduktion ökonomischer und politischer Verhältnisse.
Was genau meinen wir also mit Zuhause und wer hat überhaupt eins? Wo fängt es an, wie ist es markiert und umgrenzt, und welche Markierungen verlaufen quer zu ihm? Woher kommen Assoziationen wie Geborgenheit oder emotionale und soziale Sicherheit? Und warum wird das Zuhause oft als das Gegenteil von öffentlichen und geteilten Räumen gedacht? Kann nicht auch eine Community ein Zuhause sein? Oder gar eine ganze Gemeine Stadt?
Ängste und Unsicherheiten durchziehen die Gesellschaft, landen als Anspannung und/oder Erschöpfung im Körper: Unruhe liegt in der Luft. Und kann in weiteren Unruhen münden. Mit der Pandemie und ihren Folgen, zunehmendem Kriegsgeschehen weltweit, rasanten Klimaveränderungen und weiteren Krisen des „fossilen Kapitalismus“ sind wir umgeben von sich überlagernden Krisen. Diese werden medial zu Katastrophenszenarios verstärkt.
„Unruhig bleiben“ ist der deutsche Titel eines bekannten Buches der US-amerikanischen feministischen Theoretikerin Donna Haraway aus dem Jahr 2016 („Staying with the Trouble: Making Kin in the Chthulucene“ im Original). „Es ist unsere Aufgabe, Unruhe zu stiften“, schreibt Haraway, „zu wirkungsvollen Reaktionen auf zerstörerische Ereignisse aufzurütteln, aber auch die aufgewühlten Gewässer zu beruhigen, ruhige Orte wieder aufzubauen“.
Was hat es auf sich mit der Unruhe? Wieviel Unruhe braucht und verträgt die Gesellschaft? Wieviel das Individuum? Welche Formen der Unruhe sind wichtig, als Ausdruck von Dissens, als Aufbegehren und Sich-zur-Wehr-setzen gegen ungerechte und zerstörerische Systeme und Autoritäten? Wie lässt sich Unruhe und Unsicherheit in Engagement und Gestaltungswillen wenden, in eine aufmerksame Kritik an der gegenwärtigen Stadt? Und wann, wo und wie macht Unruhe krank? Wie lässt sich Aktivismus mit Regeneration und Nachhaltigkeit verbinden? Und was bedeutet das Spannungsverhältnis von Unruhe und Ruhe für eine gemeinsame Gestaltung von Stadt?